TODESSPIEL. Eberhard Weidner

TODESSPIEL - Eberhard Weidner


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können wir notfalls auch verschieben. Wichtiger ist, dass du gesund und wohlbehalten hier ankommst.«

      »Bei deiner Sorge um mein Wohlbefinden wird mir ja ganz warm ums Herz, Kati.«

      »Wieso Sorge um dein Wohlbefinden? Ich denke rein pragmatisch. Allein können Antonia und ich uns die Miete für die Wohnung nicht leisten. Und wer weiß, wie schnell wir einen Ersatz für dich finden, der noch dazu miserable Filme mag.«

      »Wer sagt, dass ich miserable Filme mag? Ich seh sie mir nur an, um euch einen Gefallen zu tun. Aber jetzt sollte ich endlich losfahren, sonst wird es noch später.«

      »Und fahr bloß vorsichtig. Es soll später noch regnen.«

      »Bloß nicht!«, sagte Zoe und stöhnte. »Das würde mir zu meinem Glück noch fehlen.«

      »Vielleicht bleibt es ja ausgerechnet dort, wo du fährst, trocken.«

      »Drück mir die Daumen.«

      »Mach ich. Bis später dann.«

      Zoe hatte sich verabschiedet und das Gespräch beendet. Dann war sie endlich losgefahren.

      Jetzt musste sie natürlich wieder an Katis Worte denken, während sie durch den immer heftiger werdenden Regen fuhr. Sie hatte ihre Geschwindigkeit bereits beträchtlich reduziert, um sie den Wetter- und Straßenverhältnissen anzupassen; dennoch fühlte sie sich unsicher.

      Vielleicht ist es doch besser, ich fahre rechts ran und warte, bis der Regen aufhört oder wenigstens schwächer wird.

      Allmählich fand sie immer größeren Gefallen an dieser Idee. Deshalb hielt sie Ausschau nach einer Möglichkeit, bei der sie die Straße verlassen und irgendwo parken konnte.

      Sie überlegte, ob sie ein Stoßgebet gen Himmel schicken sollte, damit der Regen endlich aufhörte. Aber derartige Hilferufe an den sogenannten lieben Gott hatten schon vor Jahren nicht funktioniert, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Damals hatte sie viel und nahezu bei jeder Gelegenheit gebetet. Ihre Mutter hatte ihr immer und immer wieder gesagt, sie sollte sich an Gott wenden, wenn sie ein Problem hatte. Und das hatte sie auch ausgiebig getan; auch wenn ihre Mutter vermutlich nicht damit einverstanden gewesen wäre, dass Zoe Gott ständig um ganz banale Dinge bat. Beispielsweise dass sie endlich einen Hund oder einen kleinen Bruder bekam. Ihre inständigen Bittgebete waren allerdings kein einziges Mal erhört worden. Zuletzt hatte Zoe als vierzehnjähriger Teenager eine halbe Nacht lang zu Gott gebetet, nachdem ihre Großmutter väterlicherseits nach einem Schlaganfall ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Sie hatte ihn heulend angefleht, die alte Frau, an der sie sehr hing, unbedingt am Leben zu lassen. Außerdem hatte sie geschworen, dass sie sich nie, nie mehr an ihn wenden würde, sollte er ihr diesen Herzenswunsch ebenfalls nicht erfüllen. Oma Brigitte starb in den frühen Morgenstunden des folgenden Tages; und Zoe hatte von einem Tag auf den anderen aufgehört, an Gott zu glauben und zu ihm zu beten.

      Ihre Mutter, die ausgesprochen religiös war und mit ihrem Mann regelmäßig in die Kirche ging, wusste nicht, dass ihr einziges Kind längst vom Glauben abgefallen war. Bislang hatte Zoe nicht den Mut gehabt, es ihr zu sagen, denn dann, so befürchtete sie, würde für die Frau vermutlich eine Welt zusammenbrechen. Deshalb hatte Zoe mit ihren Eltern am heutigen Vormittag auch den Gottesdienst besucht und so getan, als würde ihr das Ganze noch etwas bedeuten. Und wenn sie ihre Mutter damit glücklich machen konnte, waren gelegentliche Kirchgänge ein geringer Preis.

      Jetzt wünschte sich Zoe beinahe, sie könnte noch immer an einen gütigen und barmherzigen Gott glauben, der sie aus dieser schwierigen Situation errettete, indem er Petrus auf dem kurzen Dienstweg anwies, sofort die Himmelsschleusen zu schließen. Ein entsprechendes Bittgebet wäre zwar, wie sie aus bitterer Erfahrung wusste, nicht erfüllt worden, aber das Beten allein hatte ihr als Kind stets Trost gespendet. Doch sie hatte nach dem Tod ihrer Großmutter geschworen, es nie wieder zu tun, und bislang hatte sie in ihrem ganzen Leben noch keinen einzigen Schwur gebrochen. Also würde sie nicht ausgerechnet heute damit anfangen, obwohl sie sich hinter dem Steuer des Wagens immer unsicherer und unbehaglicher fühlte.

      Schon seit einiger Zeit war ihr kein Fahrzeug mehr entgegengekommen. Und auch vor oder hinter ihr fuhr kein Wagen. Es hatte ganz den Anschein, als wäre sie mutterseelenallein auf weiter Flur. Und noch immer hatte sich keine Möglichkeit ergeben, in eine Nothaltebucht oder auf einen Rastplatz zu fahren.

      Doch dann schien der Regen plötzlich nachzulassen, und Zoe atmete erleichtert auf. Vielleicht hörte der Schauer bald auf und es war gar nicht notwendig, dass sie anhielt.

      Ihr Smartphone, das in der Mittelkonsole des Wagens lag, pfiff und signalisierte ihr damit, dass sie eine WhatsApp-Nachricht erhalten hatte. Wenn es noch immer so heftig wie vor wenigen Augenblicken geregnet hätte, hätte Zoe es nicht gewagt, das Telefon in die Hand zu nehmen. Doch jetzt fühlte sie sich wieder sicherer und eher als Beherrscherin der Situation. Deshalb nahm sie die rechte Hand vom Lenkrad und griff nach dem Handy.

      Sie vermutete, dass die Nachricht von einer ihrer Mitbewohnerinnen stammte. Und tatsächlich: Antonia teilte ihr und Kati mit, dass sie in etwa einer Stunde nach Hause kommen würde.

      Das passt zeitlich, dachte Zoe. Sie schätzte, dass sie, wenn der Regen noch mehr nachließ oder sogar ganz aufhörte, in eineinviertel bis anderthalb Stunden in der Studenten-WG ankommen würde. Zufrieden lächelnd legte sie das Smartphone zurück und hob den Kopf, um wieder durch die Windschutzscheibe auf die Straße zu blicken.

      Es war der Moment, an dem ihr Herz zu schlagen aufhörte und sie daran erinnerte, dass sie sterblich war.

      Was zum Teufel …?, dachte sie und glaubte, ihren Augen nicht trauen zu können. Denn etwa hundert Meter vor dem Wagen stand jemand mitten auf der Straße.

      Die folgenden Sekunden dehnten sich in Zoes Wahrnehmung wie ein ausgelutschter, zäher Kaugummi zu einer halben Ewigkeit. Sie glaubte, ihr Herz hätte ihr den Dienst aufgekündigt und würde überhaupt nicht mehr zu schlagen anfangen. Außerdem war sie vor Schreck wie gelähmt und konnte nichts anderes tun, als die Gestalt anzustarren, die im Scheinwerferlicht stand, scheinbar völlig furchtlos dem heransausenden Wagen entgegenblickte und nicht die geringsten Anstalten machte, zur Seite zu gehen und sich in Sicherheit zu bringen.

      In der gefühlten halben Ewigkeit, die verstrich, nahm sie zahlreiche Eindrücke von ihm auf, als sähe sie ihn wie durch eine riesige Lupe genauer und detaillierter als seine Umgebung, die von der Dunkelheit und dem Regen vor ihren Blicken verborgen wurde.

      Bei der Person handelte es sich unzweifelhaft um einen Mann. Er schien riesig zu sein, nach Zoes Schätzung mindestens zwei Meter groß, und war breitschultrig und massig gebaut. Von seinem Gesicht war nicht viel zu erkennen, denn er trug einen schwarzen Hut mit einem roten Hutband, der ihm viel zu klein war und den er sich zum Schutz vor dem Regen tief in die Stirn gezogen hatte. Außerdem hatte er einen dunklen Vollbart, der die untere Hälfte seines Gesichts verbarg.

      Der Mann erinnerte Zoe unwillkürlich an den Räuber Hotzenplotz, vor dem sie sich als Kind gefürchtet hatte. Ihre Mutter hatte ihr damals das Buch vorlesen wollen. Doch nachdem sie der sechsjährigen Zoe das Titelbild gezeigt hatte, hatte sich diese geweigert, auch nur ein einziges Wort anzuhören. Sie hatte die Augen fest zugemacht, sich die Zeigefinger in die Ohren gesteckt und ganz laut »Fuchs, du hast die Gans gestohlen« gesungen. Erst nachdem ihre Mutter das Buch aus dem Haus gebracht und in die Mülltonne geworfen hatte, hatte sich Klein-Zoe wieder beruhigt.

      Im Hier und Jetzt passte allerdings die Kleidung des Mannes nicht zum Bild des von ihr damals so gefürchteten Räubers, denn er trug etwas, das wie ein zu groß geratener weißer Kinderschlafanzug mit buntem Aufdruck aussah, und war trotz des herrschenden Sauwetters barfuß.

      Welcher Anstalt ist der denn entsprungen?

      In der unglaublich kurzen Zeitspanne von drei Sekunden, die Zoe allein dafür benötigte, um all das wahrzunehmen und die Lähmung zu überwinden, die sie beim Anblick des Mannes erfasst hatte, überwand ihr Wagen bereits die Hälfte der Distanz zwischen ihnen. Zum Glück hatte sie die Geschwindigkeit zuvor schon auf 60 km/h reduziert gehabt, sonst wäre sie ihm inzwischen schon viel näher und hätte vermutlich


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