TODESSPIEL. Eberhard Weidner
den Wänden hingen drei großformatige Poster. Eins davon zeigte Sigmund Freud, den Begründer der Psychoanalyse. Ein weiteres die sogenannten »sieben großen Männer der Psychologie«: Jean Piaget, Carl Jung, Sigmund Freund, Burrhus Skinner, William James, John Watson und Ivan Pawlow. Auf dem dritten waren hingegen die »großen Frauen der Psychologe« dargestellt: Margaret Washburn, Mary Calkins, Karen Horney, Anna Freud, Mary Ainsworth und Mamie Phipps Clark.
Anja wandte sich dem Schreibtisch zu, der vor dem Fenster stand. An einer Pinnwand neben dem Fenster hing neben einer Reihe von Postkarten aus aller Welt ein halbes Dutzend Fotos. Auf zwei Aufnahmen war Zoe allein zu sehen. Drei Fotos zeigten Zoe und ihre beiden Mitbewohnerinnen. Auf dem letzten Bild war sie neben einer jungen Frau zu sehen, die Anja nicht kannte. Sie vermutete, dass es sich um eine Freundin oder ehemalige Klassenkameradin aus Nürnberg handelte.
Bis jetzt hatte Anja sich nur umgesehen und nichts angefasst. Da sich das nun ändern würde, zog sie ein Paar Einmalhandschuhe aus Nitril aus ihrer Jackentasche und streifte sie über. Sie wollte keine Fingerabdrücke hinterlassen, denn falls Zoe das Opfer eines Verbrechens geworden war, mussten hier Spuren gesichert werden.
Anja nahm die beiden Fotografien, auf denen Zoe allein abgebildet war und steckte sie in die Vermisstenakte. Diese enthielt bereits ein Foto der Vermissten, das die Eltern mitgebracht hatten, als sie ihre Tochter bei der Nürnberger Polizei als vermisst gemeldet hatten. Doch die beiden Aufnehmen von der Pinnwand schienen neueren Datums zu sein.
In der Hoffnung, auf ein Tagebuch zu stoßen, öffnete Anja die Schreibtischschubladen. In der ersten fand sie einen Stapel Zeitschriften. Es waren allesamt Ausgaben der Fachzeitschrift »Psychologie heute«. In der zweiten lagen mehrere Collegeblöcke, in denen sich Aufzeichnungen aus den Vorlesungen der jungen Studentin befanden. Die letzte Lade enthielt ein Sammelsurium an Stiften und Büroutensilien wie Locher, Hefter und Radiergummi. Außerdem entdeckte Anja einen Ordner mit Kontoauszügen und einen Terminplaner.
Sie sah sich die aktuellsten Kontoauszüge an; in den Tagen vor Zoes Verschwinden hatte es jedoch keine auffälligen Kontobewegungen gegeben. Weder war ein ungewöhnlich hoher Betrag abgehoben noch eine verdächtig erscheinende Überweisung getätigt worden. Alles sah vollkommen normal aus, und nichts deutete darauf hin, dass Zoe ihr Verschwinden geplant und vorbereitet hatte. Allerdings musste Anja noch bei der Bank überprüfen, ob es nach Zoes Verschwinden Abhebungen gegeben hatte.
Anja nahm den Terminplaner und schlug ihn auf. Sie blätterte, bis sie zum heutigen Datum kam. Für gestern, heute und morgen war nichts eingetragen. Am Donnerstag hatte Zoe allerdings am frühen Vormittag einen Arzttermin notiert. Da der entsprechende Terminzettel zwischen den Seiten steckte, sah Anja, dass es sich um einen Termin bei Zoes Frauenärztin handelte. Sie blätterte weiter und entdeckte einen Zahnarzttermin in zweieinhalb Wochen. Auch hier gab es, wie Anja erfreut feststellte, einen Terminzettel. Das ersparte ihr eine Menge Nachforschungen, da sie den Namen und die Anschrift des Zahnarztes ohnehin benötigte, um sich ein Zahnschema der vermissten jungen Frau zu besorgen. Dies geschah für den Fall, dass eine unbekannte Frauenleiche auftauchte, deren Merkmale mit denen der Studentin in der Datei über Vermisste, unbekannte Tote und unbekannte hilflose Personen übereinstimmten. Mithilfe des Zahnschemas und weiterem Identifizierungsmaterial konnte dann zweifelsfrei festgestellt werden, ob es sich bei dem Leichnam tatsächlich um Zoe handelte. Zur Sicherheit würde Anja aber auch Fingerabdrücke und DNA-Vergleichsmaterial der Vermissten besorgen.
Sie klappte den Terminplaner zu und legte ihn zusammen mit dem Kontoauszugsordner auf den Laptop. Diese drei Dinge würde sie mitnehmen, wenn sie ging, um sie in aller Ruhe im Büro auszuwerten. Dann würde sie auch die Frauenärztin anrufen und mit etwas Glück erfahren, ob es einen konkreten Anlass für den Termin gab oder ob es sich nur um einen regelmäßigen Kontrollbesuch handelte.
Obwohl sie nicht unbedingt damit rechnete, dass sie noch etwas von Bedeutung fand, öffnete Anja den Kleiderschrank und die Schubladen der Kommode. Sie wollte allerdings gründlich sein und nicht das Geringste übersehen. Es sah so aus, als fehlten nur wenige Wäschestücke. Gerade so viel, wie Zoe für ihren zweitägigen Trip in ihr Elternhaus benötigt hatte. Und entschieden zu wenig, als dass sie von vornherein eine längere Abwesenheit geplant haben könnte.
Nachdem sie der Vollständigkeit halber auch unter dem Bett und auf dem Schrank nachgesehen hatte, ohne dort etwas zu entdecken, nahm Anja neben der Vermisstenakte und ihrem Notizbuch auch den Laptop, die Kontoauszüge und Zoes Terminplaner an sich. Dann verließ sie das Zimmer.
Die beiden Studentinnen standen im Flur und sahen Anja erwartungsvoll an.
»Und?«, fragte Kati, als hoffte sie, Zoe hätte sich die ganze Zeit nur im Schrank versteckt und Anja hätte sie dort gefunden.
Anja zuckte mit den Schultern.
»Was haben Sie mit dem Laptop und Zoes Sachen vor?«, fragte Antonia.
»Ich werde sie mir im Büro genauer ansehen. Vielleicht finde ich darin einen Hinweis auf Zoes Aufenthaltsort oder den Grund, warum sie verschwunden ist.«
Kati und Antonia nickten.
»Wo ist das Bad?«, fragte Anja unvermittelt.
»Oh«, sagte Kati überrascht.
»Gleich hier«, antwortete Antonia und deutete auf die Tür.
Wahrscheinlich dachten die beiden, dass Anja ein dringendes Bedürfnis verspürte. Doch dem war nicht so.
»Können Sie mir zeigen, welche Sachen Zoe gehören?«, fragte Anja, während sie die Tür öffnete und das Badezimmer betrat.
Die beiden jungen Frauen folgten ihr; und obwohl es ein vergleichsweise großes Bad war, wurde es jetzt doch ein bisschen eng.
»Wollen Sie die Sachen etwa auch mitnehmen?«, fragte Kati verständnislos und starrte irritiert auf die Nitrilhandschuhe, die Anja trug.
Die Polizistin erklärte, dass sie DNA-Vergleichsmaterial benötigte. Dies fand sich am ehesten an persönlichen Gegenständen der Vermissten, an denen Körperzellen hafteten. Dafür kamen vor allem Haarbürsten, Kämme, Zahnbürsten, Rasierer sowie getragene und noch nicht gewaschene Bekleidung infrage.
»Und wofür benötigen sie Zoes DNA?«, fragte Kati.
Anja antwortete nicht.
»Was glaubst du denn?«, sagte Antonia. »Damit die Polizei sie identifizieren kann, falls sie ihre Leiche findet.«
Kati hob die Hand vor den Mund, als wollte sie sich selbst am Schreien hindern. »Sie glauben doch nicht wirklich, dass Zoe …« Sie traute sich nicht, weiterzusprechen.
Anja schüttelte den Kopf. »Im Moment spricht nichts dafür, dass Zoe nicht mehr am Leben ist. Es ist aber dennoch wichtig, dass wir darauf vorbereitet sind und uns frühzeitig um DNA-Vergleichsmaterial bemühen. Können Sie mir jetzt Zoes Sachen zeigen?«
Die beiden jungen Frauen wirkten schockiert. Sogar Antonia war etwas ruhiger und kleinlauter geworden, so als hätte sie endlich realisiert, dass das Verschwinden ihrer Mitbewohnerin kein Spaß war, sondern auch einen furchtbar ernsten Hintergrund haben konnte.
Da Zoe ihre Zahnbürste und ihre Haarbürste mitgenommen hatte, als sie nach Nürnberg gefahren war, und ihre getragenen Kleidungsstücke inzwischen gewaschen worden waren, musste sich Anja mit einer alten Haarbürste und einem Einwegrasierer zufriedengeben, mit dem sich Zoe erst vor Kurzem die Beine rasiert hatte. Dennoch war sie zuversichtlich, dass die Gegenstände ausreichten, um Vergleichsproben von Zoes DNA zu gewinnen. Die moderne DNA-Analytik hatte in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht; die DNA konnte mittlerweile sogar aus winzigen Hautabriebspuren bestimmt werden.
Schließlich hatte Anja alles, was sie momentan benötigte. Sie gab den Studentinnen ihre Visitenkarte und bat sie, sie anzurufen, falls ihnen noch etwas einfallen oder – noch besser! – Zoe auftauchen sollte. Dann verabschiedete sie sich von den beiden jungen Frauen und verließ die Wohnung.
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