TODESJAGD. Eberhard Weidner
teilnimmst, desto eher wirst du diese erbärmliche Existenz aus Schmerzen und Leid hinter dir lassen können und ins Licht aufsteigen.
Umgehend nach deiner Anmeldung wird sich einer unserer erfahrenen Todesengel mit dir in Verbindung setzen, um dich unter seine Fittiche zu nehmen. Er wird dir dann auch die Spielregeln der »Suicide-Challenge« erläutern.
Bist du dir noch nicht sicher, ob du wirklich unserem Selbstmordclub beitreten willst?
Dann sieh doch einfach mal in unserer »Suicidal Hall of Fame« nach. Dort findest du die Bilder sämtlicher Mitglieder, die die Challenge bislang erfolgreich absolviert haben.
Melde dich sofort an – schon nach 24 Stunden kannst auch du Teil unserer »Suicidal Hall of Fame« sein und damit gewissermaßen unsterblich werden.
Anja schüttelte den Kopf über diesen Blödsinn. Aber anscheinend gab es tatsächlich Leute, die darauf hereinfielen. Unter Umständen würde sie anders darüber denken, wenn sie depressiv wäre oder im Moment in einem Stimmungstief stecken würde.
Sie suchte nach einem Impressum, fand jedoch keins. Damit hatte sie auch nicht unbedingt gerechnet, und alles andere hätte sie auch verwundert.
Außer der Hauptseite gab es nur noch zwei weitere Seiten. Eine beinhaltete ein Formular für die Anmeldung, die andere war die erwähnte Ruhmeshalle. Anja entschied sich zunächst für die zweite Alternative.
Die »Suicidal Hall of Fame« bestand aus einem guten Dutzend Fotos. Die eine Hälfte der Aufnahmen war schwarzweiß und stammte aus Zeitungen; die übrigen waren Farbfotos. Unter keinem der Bilder, die keine bestimmte Reihenfolge oder Ordnung aufwiesen, sondern kreuz und quer auf der Seite verteilt waren, stand ein Name.
Anja entdeckte rechts oben sofort ein Bild von Christian Stumpf. Es zeigte ihn von der Seite; er schien in ein Gespräch mit einer anderen Person verwickelt zu sein, die man aber nicht sehen konnte.
Sie seufzte tief. Wenn man der Webseite und Stumpfs Abschiedsbrief glauben konnte, die sich auf makabre Weise ergänzten, hatte der Student die Suicide-Challenge mittlerweile erfolgreich absolviert. Das bedeutete, dass er längst tot war. Anjas Bemühungen, ihn lebend zu finden, waren daher aller Voraussicht nach von vornherein zum Scheitern verurteilt. Doch solange seine Leiche nicht gefunden worden war, wollte Anja nicht einfach aufgeben und die Hände in den Schoß legen. Stattdessen würde sie ihren Job erledigen und nach ihm suchen.
Die Kriminalbeamtin sah sich die anderen Fotos der Reihe nach an. Beim vorletzten stutzte sie, denn die Person, die auf dem Zeitungsfoto zu sehen war, war ebenfalls eine ihrer Vermissten.
3
Martina Schreiber war vor fünfzehn Tagen zum letzten Mal gesehen worden. Die 54-Jährige hatte nie geheiratet und war kinderlos geblieben. Sie war Schauspielerin und bewohnte eine kleine Wohnung in München-Schwabing. Ihr Bruder Reinhard meldete sie als vermisst, nachdem sie nicht zu einem vereinbarten Termin gekommen und auch telefonisch nicht zu erreichen gewesen war.
Reinhard Schreiber besaß zwar für derartige Notfälle einen Schlüssel zur Wohnung seiner Schwester, traute sich aber nicht, allein dorthin zu gehen. Er hatte panische Angst, er könnte ihre Leiche finden. Denn Martina Schreiber litt seit vielen Jahren unter Depressionen. Sie hatte in der Vergangenheit mehrmals geäußert, sie würde sich eines Tages das Leben nehmen. Vor anderthalb Jahren hatte sie es sogar versucht, indem sie eine Überdosis Schlaftabletten geschluckt hatte. Da sie ihrem Bruder unmittelbar davor eine E-Mail geschickt hatte, in dem sie ihren Suizid angekündigt hatte, konnte sie gerettet werden. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus verbrachte sie auf eigenen Wunsch sechs Wochen in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie. Anschließend besuchte sie bis zu ihrem Verschwinden regelmäßig einen ambulanten Therapeuten.
Sowohl der Bruder als auch der Therapeut hatten bis vor fünfzehn Tagen gedacht, Martina Schreiber wäre nicht mehr akut selbstmordgefährdet. Ihr spurloses Verschwinden hatte sie dann eines Besseren belehrt. Allerdings hatte die Frau dieses Mal keine E-Mail mit der Ankündigung ihres Suizids an ihren Bruder geschickt. Und es war auch kein Abschiedsbrief gefunden worden.
Anja hatte sämtliche ihr zur Verfügung stehenden Fahndungsmaßnahmen eingeleitet, war bei ihren Ermittlungen jedoch auf der Stelle getreten. Martina Schreiber gehörte zu den Vermissten, die im wahrsten Sinne des Wortes spurlos verschwanden. Da es weder Spuren noch Hinweise gab, denen die Kriminalbeamtin aktiv nachgehen konnte, hatte sie die Akte nach kurzer Zeit auf den Stapel mit den unerledigten Fällen legen müssen. Seitdem wartete sie darauf, dass sich in dem Fall etwas Neues ergab. Insgeheim war sie allerdings stets davon ausgegangen, dass sie erst dann wieder von der Frau hören würde, wenn man ihren Leichnam fand.
Doch nun war es doch anders gekommen. Statt ihrer Leiche tauchte ihr Bild in der sogenannten Ruhmeshalle eines Selbstmordclubs auf, über den Anja in einem anderen Vermisstenfall gestolpert war.
Nachdem Anja den ersten Schock halbwegs verdaut hatte, sah sie sich die übrigen Fotos noch einmal genauer an. Sie entdeckte jedoch kein weiteres Gesicht, das ihr vertraut vorkam.
Anschließend kehrte sie zur Eingangsseite zurück und überlegte, was sie jetzt tun sollte.
Ich sollte mich selbst in diesem Club anmelden. Mal sehen, was dann passiert.
Sie klickte den ersten Menüpunkt an und gelangte zum Anmeldeformular. Darin wurde neben ihrem vollständigen Namen und dem Geburtsdatum eine Reihe weiterer Angaben verlangt. Anja hatte allerdings nicht vor, ihre wahre Identität preiszugeben. Sie wollte sich stattdessen als fünfzehnjähriges Mädchen ausgeben. Also dachte sie sich kurzerhand einen falschen Namen aus und trug ihn in die dafür vorgesehenen Felder ein. Als Adresse gab sie ein Hochhaus in Moosach an, in dem eine ehemalige Schulfreundin gewohnt hatte. In dem Haus gab es so viele Parteien und ständige Mieterwechsel, dass die Initiatoren des Clubs der toten Gesichter schon persönlich hingehen und alle Briefkästen überprüfen mussten, um den Schwindel zu durchschauen. Bevor sie ihre E-Mail-Adresse eingab, richtete sie bei einem kostenlosen Anbieter einen neuen Account ein. Die Angabe der Telefonnummer war freiwillig. Darüber war Anja froh, denn sonst hätte sie ihre echte Handynummer verwenden müssen, was sie nicht wollte. Am Ende überprüfte sie alles noch einmal gründlich und schickte die Anmeldung dann ab.
Die Wartezeit verkürzte sie sich, indem sie ihre anwesenden Kollegen anrief und bat, sich die Bilder in der Suicidal Hall of Fame anzusehen. Dazu diktierte sie ihnen die Adresse der Seite. Während diese damit beschäftigt waren, sah sie die Aktenstapel auf dem Schreibtisch ihres Bürokollegen durch. Denn da Braun nicht da war, konnte sie ihn nicht fragen, ob ihm eines der Fotos bekannt vorkam. Sie fand jedoch in seinen offenen Fällen keine vermisste Person, die Ähnlichkeit mit einem der Fotos auf der Internetseite hatte.
Dann rief einer ihrer Kollegen zurück.
»Ich habe einen Treffer erzielt«, sagte Josef Fuchsner.
Anja rief erneut die Seite mit der vermeintlichen Ruhmeshalle auf. »Welches Foto ist es denn?«
»Das Zeitungsfoto unten in der Mitte.«
Anja sah es sich an. Es zeigte einen leicht übergewichtigen Mann mit Halbglatze. Anhand des körnigen Zeitungsfotos konnte sie nur schwer einschätzen, wie alt er war; sein Alter konnte durchaus zwischen vierzig und sechzig Jahren liegen.
»Wie heißt er«, fragte Anja, während sie ihr Notizbuch öffnete und den Kugelschreiber in die Hand nahm.
»Sein Name ist Stefan Greinwald. Fünfundfünfzig Jahre alt. Fernfahrer. Geschieden. Eine erwachsene Tochter, zu der er in den letzten Jahren allerdings kaum noch Kontakt hatte.«
Anja notierte sich alles. »Wann ist er verschwunden?«
»Vor zweieinhalb Wochen. Sein Arbeitgeber meldete ihn als vermisst, nachdem er nicht zur Arbeit gekommen war und man zwei Tage lang vergeblich versucht hatte, ihn zu erreichen.«
»Und?«, fragte Anja erwartungsvoll. »Was glaubst du, was mit ihm geschehen ist?«
»Ich ging von Anfang an davon aus,