Rauhnacht. Max Pechmann
Ihre Bewegung lockte die Aufmerksamkeit der Lamien auf sich. Sie durften ihr nichts tun! Wo war Lisa, verflucht?
Nur vier Kugeln steckten in dem Revolver. Er hatte keine Zeit mehr, nach den anderen beiden zu suchen. Er musste seine Frau und seine Tochter vor diesen schrecklichen Kreaturen in Sicherheit bringen.
„Bleib ganz ruhig, Anna!“
Doch seine Frau hörte nicht auf ihn. Sie erhob sich unsicher. Als sie die Lamia, die sich ihr näherte, wahrnahm, zuckte sie schockiert zusammen.
„Nicht!“, schrie Tim.
Doch es war zu spät. Die Hexe stürzte sich auf sie.
Tim feuerte aus seinem Revolver.
Zugleich lösten sich die übrigen Kreaturen aus ihrer abwartenden Starre.
Ein heller Schrei drang unter dem Bett hervor.
„Lisa!“
Und dann brach die Hölle los.
1
Ein schrilles Pfeifen hallte durch den Tunnel. Kurz darauf preschte der Zug aus der Dunkelheit in eine schneebedeckte Berglandschaft. Mehrere Krähen flatterten aufgeschreckt davon.
Titus beobachtete ihre Flucht über die dunklen Tannen hinauf in den graublauen Himmel. Die Wolken hingen tief. Er konnte nur hoffen, dass er sein Ziel noch erreichte, bevor es wieder schneite. Sein Freund hatte ihn bereits davor gewarnt, dass der Zug in den letzten beiden Dezemberwochen öfters im Schnee stecken blieb und die Passagiere dann keine andere Möglichkeit hatten, als in den Wagons auszuharren. Manchmal dauerte es nur wenige Stunden, manchmal eine ganze Nacht, bis die Schienen wieder frei waren und der Zug weiterfahren konnte.
Titus lehnte sich zurück und blickte auf seinen aufgeschlagenen Notizblock. Außer einem sinnlosen Gekritzel hatte er nichts zustande gebracht. Er hatte gehofft, die Zugfahrt dazu nutzen zu können, um ein paar Ideen aufzuschreiben, aber diese Hoffnung hatte sich inzwischen in Luft aufgelöst.
Das schrille Pfeifen kehrte wieder. Die Winterlandschaft wich einer weiteren Schwärze, als der Zug einen anderen Tunnel durchquerte.
„Nächster Halt Tiefenfall.“
Außer ihm gab es nur drei andere Fahrgäste. Keiner reagierte auf die Durchsage. Titus war wohl oder übel der einzige, der in Tiefenfall ausstieg.
Bis vor kurzem hatte er überhaupt nicht gewusst, dass es einen Ort dieses Namens gab. Doch dann hatte ihn sein Freund Gregor Kranz angerufen und gemeint, ob er über Weihnachten und Neujahr nicht zu ihm kommen wolle. „Der Ort liegt mitten in den Alpen, es gibt keine lästigen Touristen und ein Tapetenwechsel wird dir sicherlich gut tun.“
Gregor hielt sich seit zwei Monaten in Tiefenfall auf. Er war Professor für Volkskunde und, wie er behauptete, auf die Spur eines seltsamen Brauchs gekommen, den es anscheinend nur in Tiefenfall gab. Um seine Forschungen ungestört betreiben zu können, hatte er sich das Wintersemester über frei genommen. Er hatte ein Haus gemietet. „So ziemlich alle Zimmer stehen dir zur Verfügung. Such dir das aus, wo du am besten schreiben kannst.“
Für einen Schriftsteller gab es nichts Schlimmeres als eine Schreibblockade. Brachte man keine Sätze mehr zusammen, begannen irgendwann unweigerlich die Depressionen. Darauf folgten der Alkohol und schließlich die Schrotflinte. Titus hatte die vorletzte Stufe bereits erreicht. Und alles nur, weil er sich abhängig von einer Muse gemacht hatte. Seitdem sie ihn grundlos verlassen hatte, hatte er kein Wort mehr auf Papier gebracht.
Gregor hatte gemeint, die Berglandschaft hätte bereits viele Künstler und Dichter inspiriert. Vielleicht war es so. Titus kannte jedenfalls keinen. Vielleicht aber verhalf ihm die neue Umgebung wenigstens zu einer neuen Idee. Daher hatte er zugesagt. Und aus demselben Grund klappte er nun sein Notizbuch zu und steckte es zurück in seine Laptoptasche. Als er aus dem Fenster blickte, sah er bereits den Bahnsteig von Tiefenfall auf sich zukommen.
2
Der Zug hielt an dem Mittelbahnsteig, der wie eine eckige Betoninsel aus dem Schienenbett ragte. Das Namensschild, an dem das zweite L des Ortsnamens fehlte, klapperte im Wind. Auf dem Dach des Bahnsteigs türmte sich eine riesige Menge Schnee.
Das Licht der mit Fliegendreck verklebten Neonröhren vermischte sich mit der noch verbliebenen Helligkeit des Nachmittags.
Titus hatte Gregor seit fast drei Jahren nicht mehr gesehen. Für Treffen hatte einfach die Zeit gefehlt. Entweder war Gregor zu sehr beschäftigt oder Titus hatte mit einem Abgabetermin gehadert.
Gregor erwartete ihn mit einem breiten Grinsen. Er trug einen hässlich violetten Anorak. Sein Kopf bedeckte eine rote Wollmütze. Auf seiner Nase saß eine große, runde Brille. „Titus!“
Beide schüttelten sich die Hände.
„Meine Güte, Titus, du weißt gar nicht, wie schön es ist, dich endlich wieder zu sehen.“
„Du hättest sagen sollen, dass wir uns hier im Nirgendwo befinden.“
Gregor lachte auf. „Ganz der Alte, Titus. Ständig am Nörgeln. Genau das hat mir die ganzen Jahre über gefehlt.“
„Tja, auf jeden Fall gleicht es schon fast einem Wunder, dass wir uns überhaupt wieder treffen.“
Gregor stieß ihn gegen die Schulter. „Du sagst es, Titus. Und genau aus diesem Grund sollten wir feiern. Du wirst es nicht glauben, aber ich habe eine Haushälterin. Sie kocht gerade das Abendessen.“
„Ich meine, bevor wir hier festfrieren, sollten wir sie aufsuchen.“
Gregor kicherte. „Deine trockene Art ist unübertrefflich, Titus. Meine Güte, es gibt so viel zu erzählen. Also, worauf warten wir noch? Nimm deinen Koffer und ab geht die Post.“
Der Zug, der etwa eine halbe Minute an dem Bahnsteig gehalten hatte, fuhr mit einem quietschenden Ruck wieder los. Das Stampfen des Triebwagens entfernte sich rasch. Nach wenigen Augenblicken verglühten auch die roten Rücklampen des letzten Wagons in der diesigen Ferne. Die ersten Schneeflocken fielen. Erst jetzt nahm Titus die schneidende Luft wahr. Er zog seinen braunen Schal fester, hob seinen Koffer an und folgte Gregor über den hölzernen Bahnübergang zu dem verlassenen Bahnhofsgebäude, dessen kaputte Fenster mit Pressspanplatten zugenagelt waren.
„Der wird schon seit einer Ewigkeit nicht mehr benutzt“, erklärte Gregor. „Wie ich dir schon sagte, Touristen gibt es hier nicht. Ein Kommen und Gehen suchst du hier vergeblich. Die Leute von Tiefenfall bleiben unter sich. Sie mögen keine Fremden. Das wirst du bald selbst merken.“
„Hinterwäldler“, bemerkte Titus. „Du hättest ganz einfach Hinterwäldler sagen sollen.“
Gregor deutete mit dem Zeigefinger auf ihn. „Die Sicht eines Großstädters. Aber ich denke, dir wird es hier gefallen. Ich bin sogar davon überzeugt, dass du hier einen neuen Bestseller schaffen wirst.“
Titus Muskeln verkrampften sich bei dem Wort Schreiben. Eine ätzende Säure brannte in seiner Brust. Trotz der Kälte trat Schweiß auf seine Stirn.
Sie umrundeten das düstere Gebäude. Dahinter lag ein Parkplatz, auf dem nur ein einziges Auto stand. Ein schwarzer Geländewagen, auf dem sich das fahle Licht einer Straßenlaterne spiegelte.
„Ich nehme an, der gehört dir.“
Gregor schloss die Fahrertür auf. „Fast. Ich habe ihn gemietet.“
„Gemietet?“
Gregor nahm Titus den Koffer ab und verstaute ihn auf der Rückbank. „Allerdings. Von einer Autowerkstatt. Ich bin wie du mit dem Zug hierher gekommen. Die klassische Art zu reisen, wenn du so willst.“
Titus öffnete die Beifahrertür und stieg ein. „Und seit wann genau bist du in Tiefenfall?“
Gregor setzte sich hinter das Steuer. Nachdem