Rauhnacht. Max Pechmann
„Oder etwas völlig Anderes steckt dahinter. Ich hatte ein Gespräch mit dem Pfarrer. Der einzige Mann, der relativ aufgeschlossen mir gegenüber ist. Wahrscheinlich, weil er noch nicht lange die Gemeinde in diesem Ort leitet. Ich fragte ihn nach dieser Kammer. In der Tat zeigte er mir einen kleinen Raum, der ihm als Abstellkammer dient. Keine Waffen. Er lagert darin nur alte Kartons.“
„Wenn es nichts gibt, wieso hast du dann vorhin gemeint, es gebe zuviel zu untersuchen?“
„In der Kirche lagern alte Dokumente. Walter Dorn, der Pfarrer, hat sie sich noch nicht genau angesehen. Mir hat er jedoch erlaubt, die Schriften zu studieren. Auch hier in der Bibliothek gibt es ein paar Bücher, die für meine Arbeit wichtig sein könnten. Du siehst, ich stehe mit meinen Forschungen noch völlig am Anfang. Irgendetwas geht hier vor. Es kommt mir vor, als habe dieser Ort ein dunkles Geheimnis, das von seinen Bewohnern aufs strengste bewahrt wird. Wie gesagt, außer dem Pfarrer redet niemand mit mir. Und Dorn weiß so gut wie nichts über die Geschichte des Ortes.“
Titus und sein Freund saßen noch bis kurz vor Mitternacht am Kamin. Da Titus bereits ein paar Mal in seinem Stuhl beinahe eingeschlafen war, beschlossen sie, sich beim Frühstück weiter zu unterhalten.
Als Titus wieder sein Zimmer betrat, ließ er das Licht zunächst aus und ging zur Balkontür. Der Friedhof lag ruhig und vergessen inmitten der Winterlandschaft. Die Berge waren in der nächtlichen Dunkelheit nicht mehr zu erkennen.
Er öffnete die Tür und trat hinaus auf den Balkon. Die Kälte erfrischte ihn. Noch immer wehte ein Wind. Im gesamten Ort herrschte eine fast gespenstische Stille. Es gab nur ein einziges Geräusch, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein regelmäßiges Hämmern und Schlagen, so als wären mitten in der Nacht mehrere Zimmerleute am Werk.
Titus dachte an die großen Holzstämme. Gregor hatte wahrscheinlich Recht. Tiefenfall hatte ein Geheimnis.
4
Als Titus erwachte, war es draußen bereits hell. Er warf einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr, die er neben dem Bett auf den niedrigen Kasten gelegt hatte. Es war kurz nach Zehn. Die Fahrt hatte ihn wohl mehr erschöpft, als er angenommen hatte. Schnell stieg er aus dem Bett, duschte sich und verließ das Zimmer.
Aus der Küche hörte er ein emsiges Klappern von Töpfen. Lisa hatte demnach wieder ihren Posten als Haushälterin aufgenommen. Als er das Speisezimmer betrat, stellte er überrascht fest, dass Gregor nicht am Tisch saß. Es war lediglich für eine Person gedeckt. In einem Korb lagen fünf Brötchen. Es gab mehrere Marmeladen zur Auswahl, dazu Honig und Schinken. Eine Kanne Kaffee stand auf einem Porzellanstövchen mit kitschigem Blumenmuster. Neben dem Teller lag eine zusammengefaltete Tageszeitung.
Titus setzte sich. Ohne sich weiter über den Verbleib seines Freundes Gedanken zu machen, nahm er sich ein Brötchen, schnitt es auf und bestrich es mit Butter und Erdbeermarmelade.
Gerade als er sich Kaffee einschenken wollte, sagte eine sanfte Stimme hinter ihm: „Herr Kranz ist bereits außer Haus.“
Titus drehte sich um.
In der Tür zur Küche stand eine überaus hübsche Frau. Als Titus die Bezeichnung Haushälterin vernommen hatte, war in ihm das Bild einer kleinen, buckligen Alten entstanden, welche die Atmosphäre mit ihrer griesgrämigen Laune vergiftete. Die schlanke Frau, deren Äußeres eine irritierende Sinnlichkeit ausstrahlte, erstaunte ihn. Sie betrachtete ihn mit einer interessanten Mischung aus Neugierde und Zurückhaltung. Sie hatte langes, schwarzes Haar und kastanienbraune Augen. Ihre Kleidung bestand aus einer orangeroten Bluse und einer blauen Jeans. Sie faltete ihre Hände wie zum Gebet.
„Hat er gesagt, wohin er wollte?“, fragte Titus. Er hatte ganz vergessen, dass er noch immer die Kanne in der Hand hielt.
„Ich glaube, zum Bahnhof, um seine Assistentin abzuholen.“
Titus’ Stimmung verdüsterte sich augenblicklich. „Sie kommt schon in der Früh?“
„Das dürfte wohl der Fall sein.“
Titus wandte sich wieder seinem Frühstück zu. Er trank einen Schluck Kaffee und biss daraufhin in das Brötchen.
„Ich hoffe, es schmeckt Ihnen.“
Titus drehte sich wieder um.
Die Frau wirkte auf eine merkwürdige Art verunsichert. Zugleich schien sie darauf aus zu sein, mit Titus ein kurzes Gespräch zu führen.
„Schmeckt sehr gut“, antwortete er. „Ist die Marmelade von Ihnen?“
Ein zurückhaltendes Grinsen huschte über ihre Lippen. Sie trat an den Tisch, wobei sie sich hinter einen der Stühle stellte und dessen Lehne festhielt. „Alle Marmeladen sind von mir. Die Rezepte stammen von meiner Mutter.“
Titus nickte. „Wirklich gut. Mein Name ist übrigens Titus Hardt.“
„Der Schriftsteller, ich weiß.“
Titus hob seine Augenbrauen. „Sie haben schon etwas von mir gelesen?“
„Um ehrlich zu sein, nein. Aber Herr Kranz erzählte mir bereits viel über Sie. Was schreiben Sie denn?“
„Lesbenthriller.“
Die Frau errötete. „Und … können Sie davon leben?“
„Noch“, antwortete Titus. „Ich befinde mich zurzeit in einer Schaffenskrise. Seit mehreren Wochen bringe ich nichts mehr zustande. Es kommt mir vor, wie wenn ich von einer Sekunde auf die andere das Schreiben verlernt hätte.“
„Das tut mir Leid.“
Titus nickte. „Wenn ich nicht mehr schreiben kann, kann ich klarerweise nicht mehr davon leben.“
„Wahrscheinlich klingt meine Frage sehr aufdringlich, aber gibt es einen Grund dafür?“
„Dass ich nicht mehr schreiben kann?“ Titus trank einen Schluck, bevor er fortfuhr: „In der Tat, den gibt es. Meine Muse hat sich auf und davon gemacht. Eine Frau namens Elvira Mohn. Genauso wie in einem kitschigen Drama.“
Die Haushälterin schwieg. Sie betrachtete verunsichert die Tischoberfläche. Schließlich sagte sie: „Ich bin übrigens Lisa Bardin. Sie können mich einfach Lisa nennen. Ich … Nun ja, ich verwalte dieses Haus.“
Titus hielt im Kauen kurz inne. „Das ist ja interessant. Gregor meinte nämlich, er wisse nicht, wer vor ihm in diesem Haus gewohnt habe.“
„Das stimmt auch. Herr Kranz hat sich lediglich gewundert, weswegen das Haus leer stand.“
„Und weswegen stand es leer?“ Titus ließ Lisa bei der Frage nicht aus den Augen.
Die Haushälterin wich seinem Blick aus. „Die Leute glauben, dass es hier spukt. Deswegen stand es die ganze Zeit über leer.“
„Oh, der Friedhof lässt grüßen.“
„Das ist es wahrscheinlich“, erwiderte Lisa schnell. „In diesem Sinne liegt das Haus wirklich ungünstig. Es gehört meiner Familie seit mehr als zweihundert Jahren.“
„Tatsächlich? Und aus welchem Grund leben Sie mit Ihren Angehörigen nicht darin?“
„Ich lebe alleine. Mein Mann hat mich vor drei Jahren verlassen. Und meine Eltern leben nicht mehr. Was soll ich also alleine in solch einem großen Haus?“
Titus zuckte bei dem Wort Mann leicht zusammen. Er schätzte Lisa auf Anfang dreißig. Wieso verließ jemand eine solch hübsche Frau? „Haben Sie Kinder?“
„Nein.“
Titus stopfte sich den Rest des Brötchens in den Mund. Nachdem er es mit einem Schluck Kaffee hinuntergespült hatte, sagte er: „Gregor hat behauptet, dass sich so gut wie keine Touristen nach Tiefenfall verirren. Ist das richtig?“
„Touristen suchen Sie hier vergeblich. Sie und Herr Kranz sind seit längerer Zeit die ersten Besucher,