Rauhnacht. Max Pechmann

Rauhnacht - Max Pechmann


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besaß. Neben dem Eingang lagen auf einem Tisch mehrere Faltzettel. Einer davon trug die Überschrift St. Georg – Geschichte unserer Kirche. Der Inhalt des kurzen Textes erwies sich als mehr oder weniger belanglos. Der Architekt der Kirche war unbekannt.

      Der Bau wurde zum ersten Mal in einem Dokument aus dem achten Jahrhundert erwähnt. Das einzig wirklich Interessante an der Kirche hatte mit einem Wandgemälde zu tun, das auf der Nordseite angebracht war. Kunsthistorikern zufolge stammte es aus dem 15. Jahrhundert. Der Künstler konnte bisher nicht identifiziert werden, nach Art des Gemäldes aber könnte es sich um einen Maler aus dem Umfeld von Hieronymus Bosch handeln.

      Titus legte den Zettel zurück auf den Tisch. Die beiden Männer waren weiterhin in ihre Arbeit vertieft. Er spazierte an den Holzbänken vorbei und hielt nach dem erwähnten Gemälde Ausschau. Ob Gregor davon wusste? Wahrscheinlich. Immerhin hatte sein Freund bereits mit dem Pfarrer Bekanntschaft geschlossen und demzufolge die Kirche bereits aufgesucht.

      Nach wenigen Metern blieb Titus stehen. Das Kunstwerk besaß größere Ausmaße, als er sich vorgestellt hatte. Es war etwa zwei Meter hoch und einen Meter breit. Direkt daneben befand sich eine aus Holz geschnitzte Figur des Heiligen Georg, der mit einer Lanze den Hals eines Drachen durchbohrte. Die Farbe war fast vollkommen abgeblättert. Die Schnitzarbeit wirkte unbeholfen.

      Titus richtete seine Aufmerksamkeit auf das Gemälde. Es zeigt eine kleine Stadt oder ein Dorf, dessen Bewohner von einer Horde Dämonen heimgesucht wurde. Die Ungeheuer saßen rittlings auf den Dächern der Gebäude, jagten Menschen durch den Ort, fraßen Kinder und brieten Körperteile über Lagerfeuern. Manche Personen wurden von den Angreifern durch die Luft gezerrt. Die vor Schreck verzerrten Gesichter der Betroffenen ließen erahnen, dass diesen der Spaß rein gar nicht gefiel.

      Das Werk zeichnete sich durch seine durchweg düsteren, bis ins Schwarz hineingehenden Farben aus. Die Augen der Dämonen besaßen auch nach Jahrhunderten ein glühendes Rot. Manchmal ähnelten ihre Gesichter denen verwester Leichname, manchmal waren sie halb menschlich, halb tierisch und dann gab es welche, deren bizarres Aussehen Titus nicht einordnen konnte.

      „Ein interessantes Gemälde, nicht wahr?“

      Der Mann, der auf einmal neben ihm stand, erwies sich als einer der beiden, die vorhin den Christbaum geschmückt hatten. Mit Ausnahme seines weißen Priesterkragens war er ganz in Schwarz gekleidet. Das Hemd und die Hose, die aufgrund ihres Schnitts eine gewisse konservative Strenge ausstrahlten, passten nicht zu seinem jungen Aussehen und seiner modischen Frisur.

      „Der Künstler ist tatsächlich unbekannt?“, hakte Titus nach.

      „Sie haben also bereits unser Faltblatt studiert“, bemerkte der Mann mit einem süffisanten Grinsen. „Es stimmt. Kunsthistoriker können dieses Werk niemandem zuordnen. Allerdings befürchte ich, dass die Wissenschaftler gerade aus diesem Grund das Bild für belanglos halten.“

      „Hat es Ihrer Meinung nach einen gewissen Wert?“

      Der Mann legte den Kopf leicht schief. „Nun, es ist Teil unserer Kirche. Daher besitzt es jedenfalls für mich einen bestimmten Wert, auch wenn dieser rein persönlicher Natur ist. Mein Name ist übrigens Walter Dorn. Ich bin der Pfarrer dieser Gemeinde.“

      Titus schüttelte ihm die Hand. „Titus Hardt. Wahrscheinlich kennen Sie meinen Freund Gregor Kranz.“

      Dorn öffnete überrascht die Augen. „Aber ja! Sind Sie etwa auch Volkskundler?“

      „Ich bin Schriftsteller. Gregor hat mich über Weihnachten zu sich eingeladen. Wir wohnen in dem Haus neben dem Friedhof.“

      „Ich weiß, das Haus der Bardins. Wahrscheinlich sind Sie Lisa bereits begegnet.“

      „Ich hatte ein kurzes Gespräch mit ihr.“

      Der Pfarrer seufzte. „Arme Lisa. Sie tut mir richtiggehend leid. Sie ist völlig alleine.“

      „Ihr Mann hat sie verlassen“, bemerkte Titus.

      Dorn machte ein betroffenes Gesicht. „Nicht nur das. Ihre Eltern sind ums Leben gekommen als sie noch ein kleines Kind war. Aber trotz ihrer Schicksalsschläge lässt sie sich nicht unterkriegen. Sind Sie vielleicht schon in den Genuss Ihrer Kochkunst gekommen?“

      „Sie kocht gut. So viel steht fest.“

      Dorn lachte auf. „Gut? Sie kocht erstklassig. Und das Beste daran ist, es sind ihre eigenen Rezepte. Wirklich schade, dass es in Tiefenfall keine Touristen gibt. Wenn schon nicht unsere Kirche, so würde Lisas Küche die Besucher scharenweise hierher locken.“

      „Sie kennen Gregors Haushälterin anscheinend recht gut.“

      Dorn errötete leicht. „Sie backt die Kuchen für unsere diversen Feiern. Sonst aber mischt sie sich nur ungern in das Leben unserer Gemeinde ein. Das große Bild in ihrem Haus. Haben Sie es bereits gesehen?“, wechselte er abrupt das Thema.

      „Sie meinen das mit dem Wald und der dunklen Wolke?“

      „Es stammte von ihrem Vater. Er war Künstler.“

      Titus betrachtete wieder das Gemälde. „Künstler.“

      „Tim Bardin. Anscheinend zählte er sich zu den Surrealisten. Genau kann ich es Ihnen nicht sagen. Vielleicht hat Herr Kranz bereits erwähnt, dass ich mich erst seit etwas mehr als einem Jahr in Tiefenfall aufhalte.“

      „Das hat er. Sie wissen demnach nichts von den Gerüchten, die sich um diesen Ort ranken?“

      Dorn schaute flüchtig in Richtung des Weihnachtsbaums. Der andere Mann war noch immer dabei, Strohsterne an die Zweige zu hängen. „Herbert ist zum Glück taubstumm. Aber ich muss Sie dennoch warnen, nicht so laut darüber zu sprechen. Die Bewohner kennen in dieser Hinsicht keinen Spaß.“

      „Können Sie mir erklären, wieso?“

      Dorn richtete seinen Kragen, so als würde er ihn zu sehr drücken. „Genau kann ich Ihnen das nicht sagen. Es ist nur so, dass sich die Bewohner zwischen Weihnachten und Dreikönig recht eigenartig verhalten. Es hat etwas mit Aberglauben zu tun. Sie errichten Feuer, feiern seltsame Rituale und …“

      „Und bauen eine Palisade aus Eichenstämmen“, beendete Titus den Satz.

      „In meinen Augen ein nicht weniger heidnisches Ritual. Kennen Sie die volkstümliche Bedeutung der Eiche?“

      Titus schüttelte den Kopf.

      „Sie soll vor dem Bösen schützen.“

      „Und aus welchem Grund errichten sie den Zaun auf der Nordseite?“

      Dorn deutete auf das Gemälde. „Ich befürchte, aus demselben Grund, weswegen sich dieses Bild an der Nordwand befindet. Mehr kann ich allerdings nicht dazu sagen.“

      Titus erschauerte. Erst jetzt fiel ihm eine weitere Eigentümlichkeit des Gemäldes auf. Diese hatte mit der mysteriösen Lebendigkeit zu tun, die von den Figuren ausging. Es machte nicht den Eindruck, als hätte der Maler seiner Fantasie freien Lauf gelassen. Vielmehr erschien es, als hätte er etwas geschaffen, was er mit eigenen Augen gesehen hatte. „Kam es letzte Weihnachten zu ähnlichen Reaktionen unter den Bewohnern?“

      Dorn überlegte kurz. „Es herrschte eine gewisse Anspannung. Die Leute versteckten sich in ihren Häusern und gingen nur hinaus, wenn es unbedingt sein musste. Das heißt, wenn ich genau überlege, kam es zu ein paar seltsamen Zwischenfällen.“ Er hielt kurz inne. „Drei Kinder verschwanden spurlos. Mir persönlich sind die Gründe dafür unklar. Sie tauchten jedenfalls nicht wieder auf. Damals schlug ich vor, die Polizei einzuschalten. Doch mein Vorschlag stieß auf strickte Ablehnung.“

      „Sagten die Betroffenen auch, weshalb?“

      Vom Chorraum ertönte ein lautes Stöhnen. Herbert stand neben dem Christbaum und deutete energisch auf denselben.

      Dorn zeigte ein sanftmütiges Lächeln. „Er ist mit dem Schmücken fertig. Es tut mir Leid, dass ich unser Gespräch hier abrupt beenden muss. Aber ich darf Herbert nicht weiter warten lassen. Er wird schnell unwirsch.“ Dorn


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