Rauhnacht. Max Pechmann
zu spät. Ein paar der Gäste spähten mit stechenden Augen zu ihnen herüber.
Theresa, die von alldem nichts merkte, antwortete: „Bücher, Briefe, alles mögliche. Das Thema wird zwar immer wieder erforscht, aber Gregor ist durch Zufall auf eine neue, recht eigenartige Spur gestoßen. Sie wissen, was die Wilde Jagd ist?“
Titus blieb nicht die Möglichkeit, etwas darauf zu erwidern. Im selben Moment trat eine der Kellnerinnen an ihren Tisch. Ihr erbostes Gesicht, ließ nicht gerade darauf schließen, dass sie ihnen noch Kaffee nachschenken wollte. „Ich muss Sie bitten, das Lokal umgehend zu verlassen.“
„Wir haben noch nicht einmal ausgetrunken“, bemerkte Titus und erntete dafür einen giftigen Blick.
„Es ist mir egal, ob Sie ausgetrunken haben oder nicht. Sie beunruhigen unsere Gäste.“
Titus wechselte mit Gregor und Theresa fragende Blicke. „Wegen der Wilden Jagd?“
Die Kellnerin zuckte zusammen. Ihr Gesicht lief dunkelrot an. „Ich meine es ernst damit. Gehen Sie auf der Stelle.“
Titus konnte es nicht lassen zu fragen: „Ist unsere Bestellung dafür umsonst?“
„Auf Ihr Geld verzichte ich gerne. Ich möchte lediglich, dass Sie unser Lokal sofort verlassen. Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind oder was Sie hier wollen. Auf jeden Fall reden Sie über Dinge, von denen Sie keine Ahnung haben.“
Gregor tippte Titus leicht an den Arm. „Gehen wir lieber.“
Theresa nahm ihr Buch und steckte es in ihre Handtasche. „So etwas habe ich ja noch nie erlebt.“
Während Titus sich den Mantel anzog, sagte er: „Betrachten Sie es doch einfach aus einer anderen Perspektive. Immerhin war das Essen umsonst.“
Die Kellnerin folgte ihnen bis zum Ausgang, als wollte sie sich dadurch vergewissern, dass alle drei auch wirklich das Café verließen.
7
Das Garagentor senkte sich mit einem leisen Summen herab und verbannte das trübe Licht des Winternachmittags nach draußen. Mit einem leichten Klicken rastete das Tor ein.
Titus war froh, wieder in dem Haus zu sein, das Gregor für seine Forschungsarbeit gemietet hatte. Zum einen fühlte er sich durch seinen langen Spaziergang noch immer durchfroren, zum anderen verspürte er eine Art Erleichterung, zwischen sich und den paranoiden Bewohnern von Tiefenfall eine gewisse Distanz zu wissen.
Er trat in die Diele, zog seinen Mantel aus und hängte ihn in die Garderobe. Gregor half Theresa, ihre beiden Koffer nach oben zu tragen. Danach wollten sie sich in der Bibliothek treffen, um über ihr weiteres Vorgehen zu diskutieren. Titus glaubte nicht, dass er zu den Forschungsplänen etwas beitragen könnte, hatte sich jedoch dazu entschlossen, an dem Gespräch teilzunehmen.
Während Gregors und Theresas Schritte vom Obergeschoss widerhallten, trat Lisa aus der Küche. Sie wirkte angespannt, so als befürchtete sie schlechte Nachrichten. „Wie war Ihr Ausflug?“
„Anstrengend.“
„Ist etwas geschehen?“
Titus betrachtete Lisa nachdenklich. „Geschehen? Wir wurden aus einem Café hinausgeschmissen. Ich persönlich halte die Bewohner für geisteskrank.“
„Ich habe gesehen, wie Sie zum Friedhof gegangen sind.“
Titus nickte. „Die Gräber. Ich persönlich finde es äußerst sonderbar, dass zu Weihnachten 1981 mehrere Menschen ums Leben gekommen sind. Leider stellte ich fest, dass Ihre Eltern dort ebenfalls ihre letzte Ruhe gefunden haben. Eine Epidemie?“
Lisa drückte ihre Hände fester zusammen. „Meine Eltern und mein kleiner Bruder. Es … Es war keine Grippewelle. Hat Ihnen Gustav etwas gesagt?“
„Gustav?“
„Der Mann, mit dem Sie kurz geredet haben. Er ist der Friedhofswärter.“
Titus gab ein ironisches Lachen von sich. „Er wollte, dass ich von hier verschwinde. Anscheinend hielt er mich für einen Reporter.“
Lisa senkte betroffen ihren Blick. „Seine Art ist etwas grob. Und wie Sie wissen, mögen die meisten Leute von Tiefenfall keine Besucher.“
„Was ist mit den Gräbern?“, unterbrach Titus ihre schüchtern vorgetragenen Bemerkungen. „Was geschah damals?“
Gregor und Theresa kamen die Treppe herunter.
Lisa wandte sich wieder der Küche zu. „Haben Sie nicht bereits mitbekommen, was die Leute von Tiefenfall so sehr aufregt?“
Titus machte einen Schritt auf sie zu. „Sie wollen doch nicht behaupten, dass …?“
Doch Lisa war bereits wieder in der Küche verschwunden.
Gregor klopfte ihm auf die Schulter. „Bist du hier festgefroren? Gehen wir in die Bibliothek. Ich sage Lisa, dass sie den Kaffee dorthin bringen soll.“
Sein Freund verschwand hinter der Küchentür.
Theresa schaute sich in dem Eingangsbereich neugierig um. „Haben Sie sich dieses Gemälde schon einmal angesehen?“
„Wie bitte?“, fragte Titus.
Theresa lachte. „Sie scheinen ziemlich verwirrt zu sein. Hat Sie unser vorheriges Erlebnis so sehr mitgenommen?“
„Ich fürchte eher, dass mich etwas anderes mitgenommen hat.“
„Und das wäre?“, wollte Gregor wissen, der soeben zurück in die Diele kehrte. Mit einer lockeren Handbewegung wies er beide an, ihm zu folgen.
Sie traten durch eine Tür in eine Welt voller Bücher. Der staubige Geruch nach altem Papier beruhigte Titus ein wenig. Die dunkelbraunen Regale der Bibliothek maßen etwas mehr als zwei Meter. Die darin stehenden Bücher besaßen ein teils unbeschreiblich hohes Alter. Auf den Regalen türmten sich weitere schriftliche Werke. Durch ein Erkerfenster drang das trübgelbe Licht des Nachmittags herein. Auf dem Fenstersims lagen ebenfalls mehrere Bücher, eines davon aufgeschlagen.
Gregor hatte diese wahrscheinlich dahin getragen, um sie genauer unter die Lupe zu nehmen. Ein dicker Teppich bedeckte den Boden. Ungefähr in der Mitte des Zimmers stand ein runder Tisch, flankiert von vier eckigen Korbstühlen.
Lisa folgte ihnen mit einem Tablett, auf dem sie eine Kaffeekanne, drei Tassen und einen Keksteller balancierte. Nachdem sie alles abgestellt hatte, sagte sie: „Herr Kranz, bevor ich es vergesse. Ich werde jetzt gleich gehen. Das Abendessen ist bereits vorbereitet.“
Titus schaute instinktiv auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach Vier.
Gregor nickte. „In Ordnung, Lisa. Dann bis morgen.“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verließ sie das Zimmer.
Titus schaute ihr nach und trat anschließend ans Erkerfenster. Vor ihm erstreckte sich eine weite, schneebedeckte Fläche, die nach mehreren hundert Metern an einem Wald endete. Die einsame Straße, die an dem Haus und dem Friedhof vorbeiführte, verlief in Schnörkellinien bis zur ersten Baumreihe. In größerer Entfernung schimmerten die Berge. Die Bücher vor ihm auf dem Fenstersims handelten von Aberglauben im Mittelalter, Berichten über Dämonen- und Geistererscheinungen und von ungeklärten Phänomenen, die irgendein Pater aus dem achtzehnten Jahrhundert aufgeschrieben hatte.
„Und jetzt zurück zu dir, Titus“, nahm Gregor den Faden wieder auf. „Was hat dich mitgenommen?“
Titus wandte sich um. „Das, was Lisa vorhin zu mir gesagt hat.“
„Darf man auch wissen, was sie gesagt hat?“
Titus durchquerte den Raum und blieb vor dem Cafétisch stehen. Gregor und Theresa hatten es sich in den Korbstühlen bereits bequem gemacht. „Die Nervosität, die unter den Bewohnern herrscht, wenn man sie auf gewisse Dinge anspricht oder diese direkt erwähnt. Der Begriff Wilde Jagd wird hier