Rauhnacht. Max Pechmann

Rauhnacht - Max Pechmann


Скачать книгу
das kontinuierlich durch die Nacht hallte, ergab sich daraus ein ungewöhnlicher Rhythmus. Er schaute zwischen den Gitterstäben des Friedhofstors hindurch, um zu ermitteln, wo sich die beiden Personen aufhielten. Enttäuscht stellte er fest, dass er sie nirgendwo sah.

      Er öffnete das Tor.

      Der Friedhof lag still und friedlich vor ihm. Keine Schatten huschten zwischen den Gräbern umher. Hatten die beiden Besucher ihn bemerkt und sich aus dem Staub gemacht? Das Geräusch, das seine Schuhe im Schnee verursachten, war laut genug gewesen, um sie vor seiner Ankunft zu warnen.

      Titus ging an den Grabsteinen vorbei, bis er zu der Reihe aus dem Jahr 1981. Der Schnee wies an dieser Stelle mehrere Spuren auf. Er erkannte die Abdrücke schwerer Schuhe und schmaler Stiefel. Ein Mann und eine Frau?

      Aus der Kapelle drang auf einmal ein gedämpftes Niesen. Soviel zum Thema Versteckkunst. Titus schritt auf das schiefe Tor zu, an dem der eisige Wind rüttelte.

      „Ist da jemand?“ Eine tiefe Stille folgte seiner Frage.

      Er legte seine rechte Handfläche gegen die Tür und drückte sie auf. Die untere Kante schabte über den grauen Steinboden. Das Licht des Mondes fiel schräg in den Eingangsbereich. „Sind Sie hier drin?“

      Die Bewegung eines Armes lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Plötzlich blendete ihn das grelle Licht einer Taschenlampe. Schritte hinter ihm. Etwas Hartes knallte gegen seinen Hinterkopf. Dann fühlte er nichts mehr.

      Mit heftigen Kopfschmerzen kam Titus wieder zu sich. Ihn fröstelte. Der Geruch nach feuchtem Holz und altem Gemäuer drang in seine Nase. Das Mondlicht sickerte in schmalen Streifen durch die Türritzen.

      Er lag ausgestreckt auf einer der Holzbänke. Vorsichtig richtete er sich auf. Die Schmerzen in seinem Kopf nahmen zu. Mit was hatte dieser Jemand auf ihn eingeschlagen? Mit einer Stahlstange?

      Die Antwort darauf konnte warten. Was er benötigte, war eine Tasse heißen Kaffee, um sich aufzuwärmen. Die Kälte war tief in seinen Körper eingedrungen. Arme und Beine fühlten sich starr an. Er rieb an seinen Gelenken, um sie wieder einigermaßen bewegen zu können.

      Er tastete sich die Kirchenbank entlang. Kaum hatte er das Ende der Bank erreicht, als er ein seltsames Gurgeln vernahm. Dem folgte ein gespenstisches Ächzen.

      „Bist du das?“, ertönte eine raue Stimme.

      Titus blieb mucksmäuschenstill.

      „Bist du das, Lisa?

      Er blieb wie festgewurzelt am Ende der Bank stehen. Wer war dieser Mensch? Einer der beiden Friedhofsbesucher? Das Mondlicht reichte nicht dazu aus, um die gesamte Kapelle in Augenschein zu nehmen. Titus sah sich einem undurchdringlichen Schatten gegenüber.

      „Du bist es doch, Lisa. Nicht wahr? Ich kann dich doch riechen.“

      Ein Verrückter? Die Stimme hatte etwas Bedrohliches an sich. Schlurfende Schritte bewegten sich direkt in seine Richtung.

      „Du bist es, Lisa. Nicht wahr?“, wiederholte der Mann.

      Titus wich zurück. In seiner Aufregung hatte er völlig die Orientierung verloren. Was wollte dieser Mann von ihm? Wieso hielt er ihn für Lisa?

      Sein Rücken berührte die Wand der Kapelle. Die Schritte kamen näher.

      „Lisa? Du bist es doch, nicht wahr?“

      Titus brachte keinen Laut hervor. Vermutlich hätte es überhaupt nichts gebracht, die Vermutung des Mannes zu dementieren. Der Stimme zufolge war dieser entweder völlig betrunken oder wahnsinnig.

      „Lisa?“

      Die Schritte hörten nur wenige Zentimeter vor ihm auf. Danach herrschte Stille. Trotzdem verspürte Titus weiterhin die Präsenz des Unbekannten. Aus welchem Grund bewegte er sich nicht mehr?

      Vorsichtig griff Titus in seine Manteltasche. Seine Hand umfasste das Feuerzeug, das ihm vor langer Zeit seine Muse geschenkt hatte. Es besaß die Form eines Kugelschreibers, und Elvira hatte es ihm zum Erfolg eines seiner Bücher gegeben. Er zog seine Hand behutsam wieder heraus und streckte sie in Kopfhöhe von sich, sodass sein Arm weiterhin angewinkelt blieb. Mit dem Daumen betätigte er den Zünder. Kleine Funken sprühten. Als die Flamme seine Umgebung erhellte, hätte er vor Schreck das Feuerzeug beinahe fallen gelassen.

      Titus blickte in das verzerrte Gesicht eines Mannes, dessen Augen wie milchigweiße Marmorkugeln auf ihn starrten. Aus seinem offenen Mund ragten verfaulte Zahnstummel.

      „Lisa?“

      Er stieß den Mann von sich und sprang auf die Tür zu. Riss sie auf und rannte über den Friedhof. Er wagte nicht, zurückzuschauen. Das entstellte Gesicht des Mannes hatte etwas Grauenhaftes an sich. Er schlüpfte durch das Eisentor, hetzte über die Straße und warf sich wie ein erschöpfter Marathonläufer gegen die Haustür. Natürlich hatte er keinen Schlüssel dabei. Hektisch betätigte er die Klingel und klopfte gleichzeitig gegen die Tür. Er spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten. War ihm der Mann etwa gefolgt? Stand er gerade hinter ihm? Titus wagte nicht, sich umzudrehen. Er klingelte und klopfte unermüdlich weiter. Wieso brauchte Gregor so lange? Trieb er es bereits zum vierten Mal? Endlich wurde die Tür geöffnet. Titus sprang hindurch, warf sie hinter sich zu und schob die sieben Riegel vor.

      9

      Titus lehnte sich mit seinem Rücken gegen die Tür, wie wenn er dadurch verhindern wollte, dass der unheimliche Mann sie auframmte. Sein Atem ging stakkatoartig. Noch immer schmerzte sein Kopf. Hinzu kamen ein intensives Frösteln und ein rasender Herzschlag.

      Gregor betrachtete ihn verwirrt und mürrisch zugleich.

      Theresa stand auf der untersten Treppenstufe. Wie Gregor trug sie einen Bademantel. Ob sie darunter nackt war, konnte Titus nicht erkennen. Aber das spielte für ihn gerade wirklich keine Rolle. Ihre Miene zeigte weniger Verärgerung als vielmehr Sorge.

      „Es ist vier Uhr früh!“, wies Gregor ihn empört darauf hin.

      „Was ist passiert?“, fragte Theresa besorgt.

      Unter Titus’ Schuhsohlen bildete sich eine Pfütze aus Schmelzwasser. „Ich habe zwei Typen auf dem Friedhof gesehen. Sie betrachteten sich die Gräber von den Leuten, die im Winter einundachtzig gestorben sind.“

      „Und da hat Titus Hardt ein wenig Detektiv spielen wollen.“ Gregors Ironie war nicht zu überhören.

      „Die Typen haben mir eins übergezogen.“

      „Sie wurden geschlagen?“, rief Theresa erschrocken. „Gregor, was stehst du hier noch rum? Wir müssen uns um ihn kümmern!“

      Eine solche Initiativbereitschaft hatte Titus gar nicht von ihr erwartet.

      „Wie du siehst, lebt er ja noch.“

      „Ich brauche erst einmal etwas Warmes“, entgegnete Titus.

      Als er mit einer Tasse Instantkaffee in der Küche auf einem der dunklen Holzstühle saß, fühlte er sich schon etwas besser. Normalerweise mochte er dieses Gebräu nicht, da es ihm Sodbrennen verursachte. Aber dieses Mal machte er eine Ausnahme. Es erwärmte ihn und er musste nicht warten, bis der Kaffee durch den Filter getropft war.

      Theresa und Gregor saßen ihm gegenüber. Theresas Bademantel hatte sich ein klein wenig gelockert. Sie war nackt darunter. Beide tranken ebenfalls Kaffee.

      „Du wurdest von den beiden Typen tatsächlich niedergeschlagen?“, fragte Gregor auf eine Weise, als hätte er erst jetzt Titus’ Bericht verstanden. Immerhin war seine schlechte Laune verflogen. Er zeigte auf einmal sichtbares Interesse.

      Titus ließ seinen Blick durch die Küche schweifen. Herd und Arbeitsfläche bildeten in der Mitte des Raumes eine Insel. Von dem Rauchabzug, der darüber wie der Saugrüssel einer außerirdischen Maschine schwebte, hingen diverse Töpfe und Pfannen. An den Wänden standen Geschirr- und Vorratsschränke. Fast alle Möbel wiesen ein tiefes Rot auf. Der eckige


Скачать книгу