Rauhnacht. Max Pechmann
angestarrt hatte?
„Titus?“ Gregor rüttelte ihn am Arm.
„Die Typen haben mir irgendetwas auf den Kopf geschlagen“, antwortete er schließlich. „Aber das ist noch nicht das Schlimmste.“
„Noch nicht das Schlimmste?“ Theresa betrachtete ihn erstaunt. „Man hat Sie niedergeschlagen und das bezeichnen Sie nicht als schlimm?“
„Im Gegensatz zu dem, was danach geschehen ist, auf jeden Fall. Als ich wieder zu mir kam, lag ich in der Kapelle auf einer der Bänke. Aber ich war nicht allein. Ein eigenartiger Mann kam auf mich zu. Ob du es glaubst oder nicht, er hielt mich für Lisa.“
Gregor kicherte. „Gib’s zu, du trägst Damenunterwäsche.“
Theresa stieß ihn mit ihrem Ellenbogen in die Seite. „Das ist nicht witzig, Gregor. Es ist … unheimlich.“
„Ihr hättet den Mann sehen sollen. Seine Augen waren völlig weiß …“ Auf einmal legte er eine Pause ein. Dann sagte er: „Wenn ich es mir genau überlege, sah er aus wi, als wäre er soeben aus einem Grab gestiegen.“
„Und er hielt dich für Lisa?“
„Er sagte ständig, Du bist es, Lisa, nicht wahr?“
Theresa zog ihren Bademantel enger um sich. „Das klingt wie eine dieser urbanen Legenden, die an Unis und Schulen erzählt werden.“
„Für mich klingt das eher wie nach einem Verrückten, der in der Kapelle übernachten wollte“, gab Gregor zurück.
„Wer er auch immer ist, er kennt Lisa“, erwiderte Titus. „Seinem Tonfall nach zu urteilen, scheint er nicht wirklich Sympathien für sie zu empfinden.“ Er trank die restliche Tasse in einem Zug leer. Der Kaffee begann zunehmend, seinen Körper zu erwärmen.
Gregor wirkte gelangweilt. „Walter Dorn sagte mir, Lisa sei eine Außenseiterin. Es ist also kein Wunder, dass niemand sie gerne hat.“
„Trotzdem erklärt es nicht, wer dieser Mann ist.“
„Interessiert es dich so sehr?“, zog Gregor ihn auf.
„Ob es mich interessiert? Der Typ sah alles andere als harmlos aus. Wenn ich nicht abgehauen wäre, hätte er mich vielleicht umgebracht.“
„Sollen wir nicht einmal nachsehen, ob er sich dort noch aufhält?“, schlug Theresa vor.
„Es ist vier Uhr“, wiederholte Gregor seine Worte, die er bereits Titus gegenüber geäußert hatte. Viel Sinn ergaben sie in diesem Zusammenhang allerdings nicht.
„Vielleicht ist er mir gefolgt“, gab Titus zu bedenken. „Wenn er nicht ins Haus kann, dann versteckt er sich jetzt weiß Gott wo. Am liebsten hätte ich jetzt ein heißes Bad und dazu ein Glas Brandy. Ich fühle mich wie ein durchfrorener Hund. Würde mich nicht wundern, wenn mein nächtlicher Ausflug mit einer Grippe endet.“
„Und was ist mit den beiden Kerlen, die Ihnen eins übergezogen haben?“, empörte sich Theresa. „Sie müssen das der Polizei melden.“
„Ich habe nicht einmal ihre Gesichter gesehen. Den Fußabdrücken zufolge aber schätze ich, dass es nicht zwei Kerle, sondern ein Mann und eine Frau gewesen sind. Vielleicht Wissenschaftler wie ihr beide?“
„Wissenschaftler, die nächtlichen Spaziergängern eins über den Schädel ziehen?“ Die Skepsis war Theresas Frage durchaus anzuhören.
Gregor schwieg. Sein Blick verriet, dass er gerade auf einen unangenehmen Gedanken gekommen war. „Mohn“, sagte er nach einer Weile. „Es könnte dieser Bastard Mohn gewesen sein. Zusammen mit seiner Assistentin.“
„Nehmen neuerdings alle Wissenschaftler ihre Assistentinnen mit auf Reisen?“, konnte sich Titus die Frage nicht verkneifen.
Theresa grinste zweideutig.
Gregor wurde rot. „Du bist kein Wissenschaftler, Titus. Lass deine Sprüche. Aber falls es tatsächlich Mohn ist, dann haben wir hier sehr bald ein unangenehmes Problem.“
„Inwiefern?“, wollte Titus wissen.
„Er wird versuchen, unsere Forschungen zu sabotieren. Mohn, dieser beschissene Egomane. Er schreckt vor nichts zurück, um andere auszustechen. Ich kann nur hoffen, dass er es nicht ist. Ansonsten kann ich mein Projekt an den Nagel hängen.“
10
Bevor sich Titus ins Bett legte, schaute er nochmals hinüber zum Friedhof. Wolken zogen über den Himmel und der Wind heulte in Böen um das Haus. Noch immer machte das Mondlicht die Nacht zum Tag. Die Tür der Kapelle stand offen. Von dem Mann fehlte jede Spur.
Als Titus aufwachte, konnte er sich nicht daran erinnern, irgendetwas geträumt zu haben. Es war kurz nach neun. Er hatte demnach gerade einmal viereinhalb Stunden geschlafen. Sein Kopf brummte, als hätten über Nacht Hornissen ein Nest darin gebaut. Er duschte sich heiß. In dem Moment, als er das Zimmer verlassen wollte, klopfte es an die Tür.
Er öffnete.
Vor ihm stand Lisa. Sie trug einen violetten Pullover und eine blaue Jeans. In ihren Händen hielt sie ein Tablett, auf dem sich eine kleine Kaffeekanne, Marmelade und ein Korb mit Brötchen befanden. Zudem gab es einen Teller mit Schinken und ein weich gekochtes Ei. „Ich bringe Ihnen das Frühstück.“
Titus trat zur Seite. „Ist das ein spezieller Service von Ihnen?“
Als sie an ihm vorbeiging nahm er einen Hauch ihres Parfums wahr. Sie stellte das Tablett auf dem Schreibtisch ab. „Ich habe gehört, was Ihnen gestern widerfahren ist. Daher dachte ich, Sie fühlen sich nicht sonderlich wohl.“ Sie stand mit gefalteten Händen neben dem Schreibtisch und blickte Titus aus nervösen Augen an. Sie war seltsam. Aber sie war auch überaus attraktiv.
Titus zögerte. „Ist Gregor bereits auf?“
„Er und seine Assistentin frühstücken im Speisezimmer.“
„Gut, dann geselle ich mich zu ihnen.“
Lisa zuckte zusammen. Über ihr Gesicht huschte ein flehender Ausdruck. „Warten Sie bitte. Ich möchte mit Ihnen reden.“
„Etwa über diesen Mann?“
Lisa holte hörbar Atem. „Was genau ist Ihnen passiert?“
„Ich dachte, Sie wissen bereits darüber bescheid?“
„Setzen Sie sich bitte und erzählen Sie es mir noch einmal.“ Sie schob den einfachen Holzstuhl zurück, über den Titus’ Mantel hing. Ihre Augen röteten sich.
Titus gab schließlich nach. Er setzte sich auf den Stuhl, während Lisa ihm Kaffee einschenkte. Sie wirkte erleichtert.
„Wer ist dieser Mann?“, fragte er.
Lisa stellte die Kanne ab und trat hinter ihn. Mit ihren Fingern berührte sie sanft seinen Hinterkopf. „Tut es sehr weh?“
Titus irritierten ihre Berührungen. Er verspürte ein elektrisierendes Kribbeln. „Es war ein schwerer Schlag. Ich muss etwa zwei Stunden bewusstlos gewesen sein.“
Lisa trat wieder zur Seite.
„Wollen Sie sich nicht auch setzen?“, fragte er.
Sie zog den zweiten Stuhl heran und ließ sich darauf nieder. „Wie sah der Mann aus?“
Titus überlegte. Danach beschrieb er ihr das Gesicht des Fremden so gut er konnte. Je mehr er sich an den Anblick erinnerte desto stärker wurde in ihm der Eindruck, dass dieser Mann ausgesehen hatte wie ein Toter.
„Hat er Ihnen etwas getan?“, wollte sie daraufhin wissen.
„Er kam auf mich zu und blieb direkt vor mir stehen. Das war alles. Gregor meint, es sei ein Verrückter gewesen. Aber er muss Sie kennen. Immerhin nannte er Ihren Namen. Was mich allerdings am meisten wundert ist, dass er sagte, er würde Sie riechen. Er war