Rauhnacht. Max Pechmann
Wahrscheinlich nicht einmal unser Pfarrer.“
„Was genau hat sie denn angestellt?“, wollte Titus wissen.
Die Antiquarin grübelte nicht lange. „Ihr Mann ist von ihr abgehauen. Er hielt es mit ihr nicht mehr aus. Da bin ich mir sicher. Sie steht mit dem Teufel im Bunde. Manche Leute behaupten, in der Nacht, in der ihr Mann geflohen ist, haben sie furchtbare Schreie gehört. Das sagt doch wohl alles. Er schrie vor Angst. Vor Angst, hören Sie?“
Titus nickte unmerklich. Die Gerüchteküche in einem kleinen Ort wie Tiefenfall war besser als jeder Kinofilm. Die Leute hatten nichts zu tun, also erzählten sie sich gegenseitig Ammenmärchen. Dass einer dabei in den Fokus der Aufmerksamkeit geriet und somit zum Opfer wurde, war ihnen egal. Jedenfalls so lange, bis sie selbst von zwielichtigen Gerüchten heimgesucht wurden.
„Wow“, sagte Gregor, als er den Motor anließ.
Theresa reichte Titus ihre Bücher, die er neben sich auf die Rückbank legte. „Wow?“, wiederholte sie.
„Lisa führt hier wirklich kein einfaches Leben“, erklärte Gregor. „Mit Postkartenromantik hat es jedenfalls nicht viel zu tun.“
„Du glaubst das mit den Schreien nicht?“, fragte seine Assistentin.
Gregor setzte den Wagen in Bewegung. „Du etwa?“
„Ich fand es auf jeden Fall unheimlich.“
Gregor warf einen Blick in den Rückspiegel. „Was ist mit dir, Titus? Glaubst du’s oder nicht?“
Titus unterdrückte ein Gähnen. „Die Bewohner bestehen in der Hauptsache aus Spießern und Kleinbürgern. Was will man da anderes erwarten?“
Gregor lachte. „Das ist mein Titus wie ich ihn kenne und liebe. Misanthropisch bis zum Gehtnichtmehr.“
„Sagtest du nicht, du hättest etwas in der Kirche zu tun?“, entgegnete Titus.
Die Kirche war geschlossen.
Gregor, gefolgt von Titus und Theresa, umrundete das Gebäude, bis er zum Pfarrhaus gelangte. Er klingelte mehrmals. Eine ältere Frau mit kurzen grauen Haaren öffnete. Sie trug einen einfachen Hauskittel mit Blümchenmuster. Sie schien Gregor bereits zu kennen, denn sie sagte lapidar: „Der Pfarrer ist nicht hier.“
Gregor machte ein enttäuschtes Gesicht. „Ich hatte einen Termin bei ihm.“
Während die Frau ihren Blick neugierig über Theresa und Titus gleiten ließ, antwortete sie: „Es kam etwas dazwischen.“
„Und wo ist er jetzt?“
Sie deutete mit einem Nicken hinter ihn. „Er weiht den Schutzwall ein.“
Gregor wandte sich sofort um. „Das dürfen wir uns nicht entgehen lassen.“
„Warten Sie lieber hier auf ihn“, mahnte ihn die ältere Frau. „Das geht nur die Bewohner des Ortes etwas an.“
Gregor ließ sich nicht aufhalten. „Ich bin Forscher wie Sie wissen. Ich muss einfach sehen, was dort vor sich geht.“
Die Frau zuckte mit den Schultern und schloss die Tür.
Titus bekam ein mulmiges Gefühl. „Du willst wirklich da hin?“
Gregor klopfte ihm auf die Schulter. „Es ist die einzigartige Gelegenheit, etwas von diesem Brauch mitzubekommen. Gehen wir.“
Erst bei ihrem weiteren Gang durch die Stadt fiel Titus auf, dass die einzigen Leute, die ihnen begegneten, ausnahmslos Frauen waren. Das hob nicht unbedingt seine Stimmung. Es bedeutete nämlich, dass nur der männliche Teil der Bewohner bei dem Ritual anwesend sein durfte. Wahrscheinlich handelte es sich um ein Massenbesäufnis. Titus’ Nervosität nahm zu. Auf ein Rudel betrunkener Hinterwäldler zu stoßen, hatte nicht gerade etwas mit dem zu tun, was er sich von dem Ausflug erhofft hatte.
„Hier entlang.“ Gregor deutete auf eine gepflasterte Gasse, die zwischen schmalen Fachwerkhäusern steil hinab führte. Bei dem Schneematsch eine wahre Rutschpartie. Titus hätte es zweimal beinahe hingeschlagen. Als Stadtmensch hatte er natürlich nicht daran gedacht, geeignetes Schuhwerk mitzunehmen. Die glatten Sohlen seiner schwarzen Halbschuhe erwiesen sich als völlig ungeeignet. Gregor und Theresa trugen schwere Wanderstiefel. Dementsprechend schritten sie gelassen über die rutschigen Pflastersteine.
Das Ende der Gasse war gleichbedeutend mit dem Ortsende. Die letzten Häuser sahen sich einer weiten, schneebedeckten Ebene gegenüber. Normalerweise hätte er diese Fläche bis zu den Bergen verfolgen können. Im Sommer gab es hier sicherlich Wiesen und Felder.
Doch Titus´ Blick reichte gerade einmal zweihundert Meter weit. Voller Staunen betrachtete er das kolossale Bauwerk, das dort aus dem Schnee ragte. Es kam ihm vor, als trennte diese kurze Distanz das Mittelalter von der Antike.
Die Palisade erinnerte an eine römische Bastion. Die aneinander gereihten Stämme waren an ihren oberen Enden angespitzt und wirkten wie riesige Pfähle, die ein größenwahnsinniger Vampirjäger angefertigt hatte. Jeder zehnte Stamm ragte um etwa fünfzig Zentimeter über die übrigen Pfähle empor. Die Höhe der Palisade betrug ungefähr acht Meter. Sie erstreckte sich über die gesamte Nordseite des Ortes. Ein breiter, platt getrampelter Weg führte zu dem Bauwerk, vor dem sich eine größere Versammlung gebildet hatte.
Titus erkannte Walter Dorn, der auf einem Podium stand, während neben ihm der taubstumme Herbert apathisch einen Weihrauchkessel hin und her schwang. Seine Augen weiteten sich, als er Titus erkannte. Er hörte mit den Schwingen des Weihrauchkessels auf, streckte aufgeregt seine rechte Hand aus und gab unverständliche Laute von sich.
Pfarrer Dorn stoppte in seiner Predigt.
Erst wandte einer, dann zwei und schließlich alle Köpfe in ihre Richtung. Wie Titus bereits befürchtet hatte, handelte es sich bei den Anwesenden ausnahmslos um Männer. Sie hatten soeben einen Ritus unterbrochen, bei dem Frauen, so wie es aussah, in der Tat ausgeschlossen waren. Titus hoffte, dass die Bewohner sie nicht gleich teeren und federn würden. Immerhin hatten sie Theresa dabei.
„Was soll das?“, hallten bereits die ersten Rufe herüber. Gefolgt von: „Wer ist das?“, „Woher kommen die denn?“ und „Was machen die da?“. Der ausschlaggebende Satz aber lautete: „Die sind nicht von uns!“
Während Walter Dorn vom Podium aus versuchte, die Gemüter zu beruhigen, trampelten bereits die ersten Bewohner Tiefenfalls auf sie zu. Die beiden Anführer trugen blaue Latzhosen und rotweißkarierte Hemden. Sie hatten die Ärmel hochgekrempelt. Eine Art von Kälteempfinden schien es für sie nicht zu geben, auch wenn ihre Köpfe und Hände rot angelaufen waren. Sie hatten beide blondes Haar und glichen sich, als sei der eine der Doppelgänger des anderen.
„Für einen Rückzug dürfte es wohl zu spät sein“, bemerkte Theresa.
Titus fiel es schwer, zu beurteilen, ob sie dies ironisch gemeint hatte.
Gregor beobachtete mit einer gewissen Faszination das Herannahen der Einheimischen. Wäre er auch noch so fasziniert darüber, wenn sie ihm den Schädel einschlugen?
Die beiden Latzhosenträger bauten sich direkt vor ihnen auf. Sie verschränkten ihre Arme vor der Brust, sodass ihre Muskeln voll zur Geltung kamen. Titus wirkte ihnen gegenüber wie ein Streichholz, das jemand vor einem Ochsen in den Boden gesteckt hatte. Ihre Augen rollten von ihm zu Theresa und dann zu Gregor, um kurz darauf erneut auf Theresa zu blicken. Hinter ihnen versammelten sich Schaulustige und Empörte. Aber nicht alle waren gekommen. Ein paar von ihnen hielten sich weiterhin vor der Palisade auf. Pfarrer Dorn kletterte unbeholfen vom Podium. Herbert folgte ihm.
„Ihr seid nicht von hier.“ Der Satz, den einer der beiden Latzhosenträger ausstieß, besaß mehr den Charakter einer Feststellung als den einer Frage. Seine Stimme klang rau und aggressiv.
„Da haben Sie nicht Unrecht“, bemerkte Gregor. Titus beeindruckte seine Gelassenheit. Eine Ruhe, die wohl jedem Forscher irgendwie im Blut stecken musste. Selbst Zoologen, die in Afrika von einem Rudel Löwen angegriffen wurden, fanden darin noch immer etwas