Rauhnacht. Max Pechmann
so als blicke er in die Glaskugel einer Wahrsagerin. „Das ist genau der Punkt, der mich dazu gebracht hat, hierher zu kommen. Das habe ich dir gestern bereits erzählt. Von den Gräbern wusste ich nichts. Wahrscheinlich hätte ich selbst auf die Idee kommen sollen, den Friedhof aufzusuchen. Es ist wichtig, dass wir in der Öffentlichkeit nicht mehr darüber reden. Die Reaktionen, die dies hervorruft, hast du bereits mitbekommen. Vielleicht sind die Bewohner paranoid. Vielleicht aber, und das bringt uns zurück auf meine Forschung, ist ihre Angst nicht ohne Grund.“
„Der Grund wäre nichts anderes als die Wilde Jagd“, erwiderte Titus.
„Was würde das deiner Meinung nach bedeuten?“
Titus stützte sich mit den Handflächen auf der Tischplatte ab. „Was das bedeuten würde, Gregor? Die Antwort darauf ist, wie du selbst weißt, völlig absurd.“
Theresa verschränkte ihre Arme. „Sie finden es absurd, dass es die Wilde Jagd tatsächlich geben könnte?“
Titus nickte. „Wer glaubt schon an ein Heer aus Dämonen, Geistern, Hexen und Untoten, das zur Weihnachtszeit durch die Lüfte zieht? Das sind Ammenmärchen. Damit können Sie kleine Kinder erschrecken.“
„Dennoch hat Sie Lisas Hinweis ein klein wenig aus der Fassung gebracht.“
Titus setzte sich. „In der Tat, es hat mich ein wenig aus der Fassung gebracht. Es bedeutet nämlich, dass die Bewohner von Tiefenfall glauben, dass es die Wilde Jagd tatsächlich gibt. Sie halten die Legenden und Erzählungen für echt.“
Gregor und Theresa schwiegen.
Titus legte zunächst ihr Schweigen dahingehend aus, dass beide nach weiteren Antworten suchten. Doch dann dämmerte es ihm zunehmend. „Einen Moment mal. Ihr beide glaubt doch nicht etwa auch an diesen Hokuspokus?“
„Glauben ist übertrieben“, erklärte Gregor. „Es ist die Intensität, mit der dieser Aberglaube in Tiefenfall herrscht. Die Angst vor einer außergewöhnlichen Bedrohung ist so stark ausgeprägt, dass man nicht anders kann, als die Meinung zu vertreten, dass die Bewohner sich tatsächlich vor etwas Ungewöhnlichem fürchten. Die Leute, die wir gestern Abend sahen, haben sicherlich nicht aus purer Lust und Laune heraus schwere Eichenstämme durch den Ort getragen. Ihr Handeln diente einem bestimmten Zweck. Dem Zweck nämlich, sie vor einer unheimlichen Gefahr zu schützen, die jederzeit über sie hereinbrechen kann. Meiner Meinung nach muss es sich um eine reale Bedrohung handeln.“
Titus erhob sich und trat zurück ans Fenster. Die menschenleere Landschaft wirkte auf ihn alles andere als beruhigend. Er drehte sich um und sagte: „Die Leute glauben, dass es in diesem Haus spukt. Ist dir bisher irgendein Geist begegnet?“
„Nein.“
„Die Leute glauben, dass sie von einer Horde übernatürlicher Wesen bedroht werden. Bist du bereits einem von ihnen begegnet?“
Gregor seufzte. „Nein.“
„Da hast du es.“
„Sie würden keinen guten Volkskundler abgeben“, meinte Theresa.
Ihre Aussage verwirrte ihn. „Wie meinen Sie das?“
„Jede Vorstellung beruht letzten Endes auf einer realen Begebenheit. Um die Aspekte eines Brauchs verstehen zu können, muss man ihn zurück bis zu seinen Anfängen verfolgen. Sie wehren sich allerdings schon allein gegen die grundlegende Möglichkeit, dass etwas Wahres dran sein könnte.“
„Ich wehre mich nicht dagegen“, stellte Titus richtig. „Ich stelle die Theorie lediglich in Frage. Aber Sie haben Recht, als Wissenschaftler tauge ich nichts. Ein Grund, weswegen ich damals mein Studium abgebrochen habe.“
Theresa wirkte interessiert. „Sie haben studiert?“
„Ich weiß, dass sieht man mir nicht an. Es gibt auch nichts Brotloseres als Literaturwissenschaft. Die Professoren langweilten mich zudem mit ihrer Rechthaberei.“
„Brotloser als dein Fach ist Volkskunde. Das schlägt so ziemlich alles“, wandte Gregor ein. „Wenn man keine Stelle an einer Uni bekommt, ist man für den Rest seines Lebens arbeitslos. Aber zurück zu unserem eigentlichen Thema. Wie du weißt, kenne ich die Geschichte des Hauses nicht. Das heißt jedoch nicht, dass ich mich nicht umgesehen habe. Du hattest bisher noch nicht das Vergnügen, das Gebäude durch die Eingangstür zu betreten. Hättest du es gemacht, dann wären dir sieben Silberschlösser aufgefallen. Silber ist schädlich für Werwölfe.“
Gregors Ausführung wirkte nicht gerade überzeugend. „Vielleicht gibt es hier Diebe. Deswegen die Vorkehrung. Mich würde es nicht wundern, wenn die Fenster aus irgendeinem Sicherheitsglas bestünden. Das Haus liegt völlig alleine. Ich halte das für die logischere Erklärung.“ Titus’ letzter Satz blieb zunächst ohne Widerhall.
Nach einer Weile fragte Theresa: „Hat Ihnen Gregor einmal etwas über die Wilde Jagd erzählt?“
„Ein Heer aus albtraumhaften Kreaturen. Und dass es hierzu verschiedene Bräuche gibt.“
Theresa strafte Gregor mit einem tadelnden Blick. „Dann ist Ihre Einstellung natürlich zu verstehen.“
Gregor setzte zu einer Verteidigung an, doch Theresa stoppte ihn mit einer sanften Handbewegung.
„Der genaue Ursprung der Wilden Jagd verliert sich in grauer Vorzeit. Bereits in der Antike findet man Berichte über ein sonderbares Brausen in der Luft, dem schreckliche und albtraumhafte Phänomene folgen. In der Regel ist ihr Auftreten verbunden mit einer Frau, welche die Wilde Jagd anführt. Entweder handelt es sich dabei um Diana oder um Pharaildis. Manchmal tauchen auch die Namen Satia und Holda auf. In manchen Gegenden glaubt man, dass diese Frauen die Toten und Verfluchten um sich scharen. Diese Armee, die aus Wiedergängern, Werwölfen, Hexen und Dämonen besteht, bezeichnet man als ihr Gefolge. In einem Konzil, das 314 nach Christus in Ankara abgehalten wurde, wird zum ersten Mal offiziell auf diese Frauen und ihr Gefolge hingewiesen. Sie werden schlicht und ergreifend als Frauen der Nacht bezeichnet.“
Theresa war voll und ganz in ihrem Element. Ihre Augen strahlten, während sie über die bisherigen Erkenntnisse referierte, die mit diesem sonderbaren Glauben im Zusammenhang standen.
„Ist mit Diana etwa die römische Göttin gemeint?“, wunderte sich Titus.
Gregor kam Theresa zuvor. „Eher nicht. Es handelt sich dabei wahrscheinlich um eine Waldgöttin, die bis ins fünfte Jahrhundert von den Bauern angebetet wurde. Ihr Ursprung liegt in einer keltischen Gottheit namens Di Ana. Pharaildis dürfte dir bekannt sein. Sie ließ Johannes den Täufer enthaupten. Einer Legende zufolge wurde sie dazu verdammt, in den Nächten durch die Lüfte zu fliegen. Pharaildis wollte mit Johannes dem Täufer in die Kiste. Ihr Vater verbot es ihr allerdings. Als sie schließlich das Haupt des Heiligen küssen wollte, blies er ihr ins Gesicht, was dazu führte, dass sie durch eine Öffnung des Dachs hinauskatapultiert wurde. Bis heute rätseln Volkskundler, wohin es diese Hexe verschlagen hat. Über ihren weiteren Verbleib in Literatur und Folklore sucht man vergeblich und dies, obwohl sie als Mutter der Hexen bezeichnet wird. Selbst Theologen machen sich über diese Figur Gedanken, da sie im Gegensatz zu dem steht, was man als heilig verehrt. Ich war erstaunt, dass sogar der örtliche Pfarrer über diese Legende Bescheid weiß.“
„Es ist zudem unklar, ob Satia und Holda alternative Namen dieser Frau sind oder ob sie für verschiedene Persönlichkeiten stehen“, übernahm Theresa wieder das Wort. „Betrachtet man die Frauen der Nacht unabhängig von ihren Namen, so handelt es sich bei ihnen schlicht und ergreifend um einen Geist, der in Gestalt einer Frau auftritt. Manchen bringt er Glück, anderen Unglück. Daher die Riten. Die Leute schützen sich vor den nächtlichen Gestalten, indem sie über Nacht eine gewisse Anzahl an Speisen auf dem Esstisch stehen lassen. Andere verbieten ihren Kindern, abends und nachts das Haus zu verlassen. Denn mit diesem Geist kommen auch die Lamien. Dabei handelt es sich um grässliche, alte Hexen, die kleine Kinder fressen. Es gibt Berichte, dass manche von ihnen auch in die Häuser eindringen, um die Kinder zu stehlen. Wie gesagt, kommt es darauf an, die Regeln des Brauchs einzuhalten, damit so etwas nicht geschieht.“
Titus