Rauhnacht. Max Pechmann

Rauhnacht - Max Pechmann


Скачать книгу
stehen. Es fiel ihm schwer, das eben geführte Gespräch einzuordnen. Er gehörte nicht zu den Leuten, die alles für bare Münze nahmen. Im Gegenteil, Titus gehörte zu den Zweiflern und Skeptikern. Andererseits besaß er genug Toleranz, um nicht sogleich Dinge als absurd abzutun, nur weil er sie nicht verstand. Er glaubte weder an das Übernatürliche noch glaubte er nicht daran. Er wusste einfach nicht, ob es Dinge dieser Art gab. So lange es weder Beweise dafür noch dagegen gab, lag alles, was damit zu tun hatte, im Bereich des Möglichen.

      Dennoch konnte er nicht verhindern, dass er sich in diesem Ort nicht sonderlich wohl fühlte. Was passierte in Tiefenfall zwischen Weihnachten und Dreikönig? Eigentlich hatte sich Titus mit Gregors Forschung nicht weiter abgeben wollen. Nun aber kreisten seine eigenen Gedanken um dieses Thema. Was hatten die verschwundenen Kinder zu bedeuten? Waren sie vielleicht längst wieder aufgetaucht, ohne dass Dorn etwas davon mitbekommen hatte? Kinder spielten gerne Streiche. Gelegentlich büchsten sie auch von zuhause aus.

      Titus holte einmal tief Luft und stieß den Atem langsam aus. Er sollte erst einmal einen Kaffee trinken, um sich aufzuwärmen.

      Als er vor der Kirche stand, konnte er beim besten Willen nicht sagen, durch welche der Gassen er auf den Platz gekommen war. Aber egal. Um seinen Rückweg zu finden, hatte er noch genug Zeit. Im schlimmsten Fall konnte er den Pfarrer fragen. Zunächst brauchte er etwas Warmes zu trinken. Er entdeckte ein Café, das sich ihm direkt gegenüber befand, und schlenderte darauf zu.

      Die Glastür wurde plötzlich aufgerissen.

      „Titus!“ Gregor stand am Eingang des Cafés und winkte ihm zu. „Ich hab dich gerade durch eines der Fenster gesehen.“

      Er versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. „Ich dachte, du holst, deine Freundin ab.“

      „Sie sitzt da drinnen.“

      Titus zögerte. „Dann lasst euch nicht stören.“

      Gregor lachte auf. „Du wirst sie sowieso kennen lernen. Wieso also nicht gleich jetzt?“

      Titus suchte vergeblich nach einer Ausrede. „Da hast du auch wieder Recht.“

      „Bist du den ganzen Weg hierher zu Fuß gekommen?“, wollte Gregor wissen, als mit Titus das Café betrat.

      Der Duft nach Kaffee und Sahnetorten schlug ihm entgegen. „Geflogen bin ich jedenfalls nicht.“

      Gregor lachte. „Eine dumme Frage, ich weiß.“

      „Ich habe mit dem Pfarrer gesprochen.“

      Sein Freund blieb stehen. „Du warst in der Kirche?“

      „Hätte ich nicht sollen?“

      „Doch, doch. Natürlich.“

      „Das Gemälde …“

      Gregor wies ihn mit einer flüchtigen Handbewegung an, zu schweigen. „Nicht jetzt“, flüsterte er. „Später können wir darüber reden.“ Darauf setzte er sich wieder in Bewegung.

      Titus zuckte mit den Schultern und folgte ihm. Die Inneneinrichtung verblüffte durch ihr Jugendstildesign. Ein völliger Gegensatz zu dem mittelalterlichen Ambiente des Ortes.

      Gregor steuerte auf einen der Tische zu, die direkt neben dem Fenster standen. Eine junge Frau saß dort und blätterte in einem Buch.

      „Das ist Theresa“, stellte Gregor sie ihm vor.

      Gregors Assistentin blickte auf und zeigte dabei ein entspanntes Grinsen. Sie trug einen engen braunen Pullover, der ihre Rundungen voll zur Geltung brachte. Ihr langes, blondes Haar reichte ihr bis über die Schultern. Ihr dunkler Lidschatten und ihre kirschroten Lippen erhöhten ihre attraktive Ausstrahlung.

      Sie reichte Titus die Hand. „Nett, Sie kennen zu lernen, Herr Hardt.“

      Titus versuchte, nicht auf ihren Busen zu schielen. „Ganz meinerseits.“ Er setzte sich. Die plötzliche Wärme, die ihn umgab, juckte auf seiner Haut. Er bestellte sich eine Tasse Kaffee.

      „Keinen Kuchen?“, wunderte sich Gregor.

      „Ich hasse Süßkram.“

      „Gregor erwähnte, dass Sie Schriftsteller sind“, eröffnete Theresa pflichtbewusst die Konversation.

      „Ich versuche damit, mein Geld zu verdienen.“

      Theresa runzelte die Stirn. Seine Antwort war wohl etwas zu grob ausgefallen.

      „Er ist manchmal ein bisschen griesgrämig“, schaltete sich Gregor in das Gespräch ein. „Aber man gewöhnt sich relativ schnell daran.“

      Theresa lächelte wieder, wenn auch etwas verunsichert. „Sie sind erst gestern hier angekommen?“

      Titus hasste solche rhetorischen Fragen. Mit Sicherheit wusste sie die Antwort schon. Wahrscheinlich hatte ihr Gregor bereits seine ganze Biographie erzählt. „Gregor lud mich ein, über Weihnachten hier zu bleiben. Allerdings frage ich mich, ob ich die Einladung inzwischen nicht bereue.“

      „Oh.“

      „Ich glaube, mit dem Ort stimmt etwas nicht.“

      Gregor forderte ihn mit einer Geste auf, leiser zu sprechen. „Du befindest dich gerade in der Höhle des Löwen, Titus. Wieso schreist du nicht gleich deine Bedenken laut heraus, sodass alle es mithören können?“

      „Also gut, ich war auf dem Friedhof“, flüsterte Titus.

      „Auf dem Friedhof?“, staunte Gregor.

      „Wieso nicht? Ich dachte, vielleicht würden mich die alten Gräber auf irgendeine neue Idee bringen. Aber nichts dergleichen. Stattdessen stellte ich etwas recht Sonderbares fest. Am ersten Weihnachtstag 1981 kam es hier zu mehreren Todesfällen.“

      „Ist das wahr?“ Theresa betrachtete Titus erschrocken.

      „Irgend so ein Typ aus dem Ort lauerte mir auf dem Friedhof auf. Ich fragte ihn, ob er wisse, was damals geschehen sei. Er sagte nur, ich solle abhauen.“

      Gregor meinte: „Das Gespräch sollten wir besser zuhause weiterführen. Reden wir so lange lieber über etwas Anderes.“

      „Und sieh dir einmal diese bizarren Dornen auf dem Kirchendach an …“

      „Titus!“ Gregor hob warnend seinen Zeigefinger. „Wenn wir zuhause sind. Dann reden wir darüber.“

      Titus zuckte mit den Achseln und trank einen Schluck Kaffee. „Was haben Sie da für ein Buch?“

      Theresa klappte es zu und zeigte ihm das Cover. „Eine kulturwissenschaftliche Analyse über Dämonen und Wiedergänger.“

      „Oh ha.“

      „Wie Sie sicherlich bereits wissen, arbeite ich mit Gregor zusammen. Ich beschäftige mich mit den sozialen und historischen Hintergründen von Legenden und Aberglauben.“

      „Vorhin sah ich im Schaufenster eines Antiquariats ganz ähnliche Bücher.“

      „Ich liebe Bücher“, bemerkte Theresa erfreut. „Können wir nachher dort vorbeischauen?“

      „Es hat geschlossen“, sagte Titus. „In Gregors Haus gibt es allerdings eine Bibliothek.“

      „Ist das wahr?“, wandte sie sich an Titus’ Freund.

      „In der Tat, meine Liebe. Ein ganzer Raum voller Bücher. Es wird eine unsere Aufgaben sein, dort nach brauchbaren Werken zu suchen.“

      „Am besten, wir fangen gleich heute damit an.“

      „Sie sind wirklich tüchtig“, stellte Titus fest.

      Theresa strich sich verlegen eine Haarsträhne zurück. „Da müssen Sie Gregor fragen, ob ich wirklich so tüchtig bin. Die Arbeit macht mir jedenfalls Spaß. Ein stupider Bürojob wäre nichts für mich. Ich mag es, Neues hinzuzulernen. Es ist so, als würde man auf einem staubigen Dachboden in alten Kisten wühlen und dabei faszinierende Gegenstände entdecken.“


Скачать книгу