Rauhnacht. Max Pechmann
an die Armee der Nacht so stark, dass die Kirche diesen als Bedrohung für ihre eigene Existenz betrachtete. Die Folgen muss ich dir wohl nicht nennen.“
„Inquisition?“, hakte Titus nach.
Theresa nickte. „Die Kirche versuchte, durch brutale Strafen und strenge Regeln dem Aberglauben Herr zu werden. Berthold von Regensburg mahnte in einer Predigt, dass man unter keinen Umständen an die Frauen der Nacht, an Gespenster, Kobolde, Untote und ähnliche Kreaturen glauben sollte.“
„Aber wie sollte der Glaube eingedämmt werden, wenn es immer wieder Augenzeugenberichte gab?“, fügte Gregor hinzu.
„Augenzeugenberichte?“
„Wir finden diese über das gesamte Mittelalter verstreut. Zum Beispiel berichtet ein gewisser Sulpicius Severus darüber, dass ein Kloster von einer Horde Dämonen heimgesucht wurde. Er schreibt von Schrittgeräuschen, Stimmen und Lichterscheinungen. Sein Bericht muss ungefähr 400 nach Christus erschienen sein. Im Jahr 1092 nach Christus erschien ein Bericht über die Heimsuchung der weißrussischen Stadt Polock. Es wurde notiert, dass eines Nachts plötzlich hässliche Dämonen durch die Stadt gerannt seien und jeden mitgenommen haben, der sich auf die Straße traute.“
Titus kamen nun doch wieder Zweifel. „Schön und gut. Aber diese angeblichen Augenzeugenberichte stammen aus dem Mittelalter, einer Zeit, in welcher der Aberglaube Hochkonjunktur hatte. Wie sieht es mit heutigen Berichten aus?“
Theresa und Gregor versanken abrupt in ein betretenes Schweigen.
„Dachte ich mir’s doch. Keine Spur von alldem.“
„Tiefenfall ist der einzige Ort, wo sich die Gerüchte über die Wilde Jagd aufrechterhalten haben“, sagte Gregor.
„In anderen Dörfern oder kleinen Städten gibt es lediglich noch die Percht“, meinte Theresa. „Es handelt sich dabei um eine Art Faschingsumzug. Menschen in Kostümen marschieren durch die Straßen und versuchen durch Glockenläuten und Peitschenknallen die Wintergeister zu vertreiben. Der Name ist übrigens ebenfalls ein Synonym für die Frauen der Nacht. Man spricht auch von Frau Percht oder Perchta.“
„Hinzu kommen immer wieder Warnungen vor Geistermessen“, setzte Gregor seinen Vortrag fort. „In den Rauhnächten sollte man nach Mitternacht keine Kirche aufsuchen, da dann die Toten darin ihre Messen feiern.“
„Gibt es dazu etwa auch Augenzeugenberichte?“
„Aus dem Mittelalter.“ Gregors Antwort hätte sich Titus eigentlich denken können.
„Woher sonst“, gab er zurück.
„Und dann ist da noch die Sache mit den sprechenden Tieren“, zeigte Theresa auf. Sie machte aber keineswegs einen so selbstsicheren Eindruck wie zuvor. „Also Tiere, die plötzlich beginnen …“
„Ich habe schon verstanden.“
Gregor nahm seine Brille ab und massierte sich den Nasenrücken. „Jetzt weißt du jedenfalls ungefähr, was es mit der Wilden Jagd auf sich hat.“
„Eine Horde Monster, die von einer Frau angeführt wird. Hinzu kommen Geistermessen und sprechende Tiere.“
Gregor grinste. „In einer meiner Klausuren hätte ich dir dafür eine Eins gegeben.“
„So einfach ist das also?“, gab Titus zurück.
Theresa kicherte. „Gregor ist bei seiner Benotung stets äußerst großzügig.“
Das konnte sich Titus gut vorstellen. Gut aussehende Studentinnen erhielten bei ihm mit Sicherheit auch dann gute Noten, wenn sie leere Blätter abgaben.
Gregor stand auf. „Ich weiß nicht, wie es euch geht. Aber langsam bekomme ich Hunger. Ich bin der Meinung, wir sollten hiermit unsere Diskussion beenden und lieber nachsehen, was Lisa für uns vorbereitet hat.“
„Die Idee klingt verlockend“, gab Theresa zurück. „Was meinen Sie, Herr Hardt?“
„Lisas Kochkünste lass ich mir nicht entgehen. Wilde Jagd hin oder her.“
„Mindestens beim Essen sind wir einer Meinung“, erwiderte Gregor und verließ als erster die Bibliothek.
8
Das Essen hatte seine Erwartungen bei weitem übertroffen. Lisa hatte Lammbraten mit Champignonsauce zubereitet. Dazu gab es Kartoffeln und gedünstetes Gemüse. Der Braten war auf der Zunge zergangen. Obwohl Titus Saucen nicht mochte, hatte er den Teller blitzblank gelöffelt. Sowohl die Kartoffeln als auch das Gemüse besaßen einen Geschmack, den Titus bei solch gewöhnlichen Beilagen nicht für möglich gehalten hatte. Er fand es überaus schade, dass Lisa nicht anwesend war. Ihre Kochkünste hatten ein eindeutiges Lob verdient.
Nachdem sie den Abend vor dem Kamin bei einer Tasse Kaffee hatten ausklingen lassen, hatte sich Titus wieder zurück in sein Zimmer begeben. Inzwischen zeigte die Wanduhr kurz nach zwei. Titus fühlte sich alles andere als müde. Er hatte versucht, zu lesen, doch die Buchstaben waren vor seinen Augen zu sinnlosen Mustern verschwommen. Seine Gedanken kehrten immer wieder auf das Gespräch mit dem Pfarrer zurück. Die Erinnerung an das Verhalten der Kellnerin ließ ihn nicht los.
Für ihn ergab das alles keinen Sinn. Obwohl er von Gregor und Theresa ein paar Dinge über die Wilde Jagd erfahren hatte, konnte er sich nicht vorstellen, dass es Menschen gab, die vor diesen abergläubischen Ideen wirkliche Angst empfanden. Bestand die Möglichkeit, dass es sich hierbei um eine Massenhysterie handelte? Titus war kein Psychologe, doch diese Erklärung erschien ihm näher liegend als die Angst auf das Vorhandensein übernatürlicher Wesen zurückzuführen.
Aus einem der Zimmer drang Theresas lautes Stöhnen. Gregor und seine Assistentin trieben es bereits zum dritten Mal. Alle Achtung. In dieser Hinsicht hatte er Gregor völlig unterschätzt.
Titus öffnete die Balkontür und trat hinaus. Er zog eine Zigarette aus seiner Schachtel und zündete sie an. Vielleicht verhalf ihm dies dazu, seinen Kopf leer zu bekommen. Aus der Ferne hallte auch jetzt noch das emsige Hämmern. Der Zaun schien demnach immer noch nicht fertig zu sein. Der Wind hatte zugenommen. Teils kräftige Böen wirbelten den Schnee auf. Das Licht des Vollmonds ließ die kleinsten Kristalle erkennen, die durch die Luft fegten. Die Kälte tat gut. Er schaute hinüber zum Friedhof.
Und erstarrte.
Zwei Schatten bewegten sich zwischen den Gräbern. Titus konnte es nicht schwören, aber er glaubte, dass sich die beiden Gestalten vor den Grabsteinen aufhielten, in die das Todesjahr 1981 eingraviert war. Obwohl der Mond genug Licht spendete, um einen Faden in eine hauchdünne Nadel einfädeln zu können, leuchtete einer von ihnen mit einer Taschenlampe. Sie schlichen von einem Grab zum nächsten. Vor jedem Grabstein blieben sie ein paar Minuten stehen. Es sah aus, als würde einer von ihnen etwas auf einem Schreibblock notieren. Danach zuckte das Blitzlicht eines Fotoapparats auf. Titus lehnte sich über das Geländer, um besser sehen zu können. Die Gesichter der beiden Gestalten verbargen sich in den hochgezogenen Kapuzen ihrer Daunenjacken. Wieso trieben sie sich mitten in der Nacht auf dem Friedhof herum? Wie Grabschänder sahen sie nicht aus. Ihr Verhalten erinnerte eher an das von Archäologen oder Historikern, die an einer neuen Fundstelle Daten sammelten.
Titus drückte die Zigarette aus und warf sie über den Balkon. An Schlaf war nun sowieso nicht mehr zu denken. Er ging zurück ins Zimmer, schloss die Glastür und lief hinunter in die Eingangshalle. Dort griff er sich seinen Mantel und verließ das Haus. Er wusste selbst nicht, aus welchem Grund er sich plötzlich in diese Angelegenheit hineinsteigerte. Er war nach Tiefenfall gekommen, in der Hoffnung, einen schriftstellerischen Neuanfang zu starten, und nicht, um sich mit nächtlichen Herumtreibern, abergläubischen Alpenbewohnern und den gewagten Theorien seines Freundes herumzuplagen.
Vielleicht bewirkte ja auch Lisas Essen seinen ungewohnten Tatendrang. Wenn er es genau bedachte, fühlte er sich nach jedem Verzehr ihrer Kochkünste regelrecht aufgemuntert. So kannte er sich gar nicht. Essen hatte bisher auf ihn noch nie eine psychische Auswirkung gehabt. Wie dem auch sei. Er hatte sich plötzlich