Rauhnacht. Max Pechmann
Freund hat wahrscheinlich Recht. Es muss sich um einen Verrückten handeln.“
Titus stellte die leere Kaffeetasse zurück auf das Tablett. „Können Sie mir verraten, wieso ich Ihnen das nicht glaube? Er kannte Sie. Er hielt mich für Sie.“
Lisa runzelte die Stirn. „Sie sollten in der Nacht nicht mehr alleine hinausgehen. Heute ist der 21. Dezember. Ab heute beginnen die Rauhnächte. Manchmal geschieht nichts. Manchmal kommt es nur zu ein paar Zwischenfällen. Aber hin und wieder wird es äußerst gefährlich.“
Titus verstand nicht, aus welchem Grund sie plötzlich auf die Wilde Jagd anspielte. „Was hat das mit jenem Mann zu tun?“
Lisa erhob sich. „Er begegnete Ihnen in der Kapelle?“
„Sagte ich das nicht bereits?“
„Folgte er Ihnen bis zum Haus?“
Titus konnte seine Gereiztheit nicht länger verbergen. „Wieso stellen Sie mir diese Fragen? Wenn Sie wissen, um wen es sich bei dem Mann handelt, dann sagen Sie es doch einfach!“
Lisa ging zur Tür. Kurz davor blieb sie stehen und wandte sich um. „Sie waren in meiner Küche, nicht wahr?“
Titus nickte erbost. „Ist das verboten?“
„Ich möchte nicht, dass Sie noch einmal meine Küche betreten, wenn ich nicht da bin. Niemand darf das. Wenn Sie nachts gerne Kaffee oder Tee trinken oder eine Kleinigkeit essen wollen, dann sagen Sie es mir vorher. Ich werde Ihnen alles in das Esszimmer stellen. Aber gehen Sie bitte nicht noch einmal in meine Küche.“ Sie trat hinaus in den Flur und schloss die Tür hinter sich.
Titus blieb ratlos zurück.
11
„Unser Abenteurer weilt wieder unter den Lebenden?“, rief Gregor.
Titus setzte sich zu ihm und Theresa an den Tisch im Esszimmer.
Sein Freund faltete die Zeitung zusammen und legte sie neben den Teller, auf dem sich Brotkrumen mit Marmeladenklecksen vermischten.
Theresa kaute noch an ihrem letzten Stück Brot. „Was macht Ihre Beule?“
Titus berührte seinen Hinterkopf. Die Stelle, an der ihn der Knüppel oder die Stange oder was auch immer getroffen hatte, schmerzte nicht mehr. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er keine Kopfschmerzen mehr hatte. „Es geht.“
Gregor beugte sich leicht über den Tisch und flüsterte: „Was hat Lisa mit dir getrieben?“
Titus wandte seinen Kopf zur Küchentür. Sie war geschlossen. Kein Laut drang dahinter hervor. „Sie wollte mich über den Mann ausfragen.“
„Und?“
„Nichts und. Sie hüllt sich in Schweigen, was ihre Beziehung zu diesem Kerl anbelangt.“
Gregor grinste. „Aus Lisa ist nichts herauszubekommen. Das hätte ich dir schon früher sagen können. Aber vielleicht weiß Walter Dorn ja über diesen Mann Bescheid. Ich möchte ihm heute einen Besuch abstatten. Vielleicht können wir schon heute ein paar der Dokumente durchgehen.“
„Und du hast mir versprochen, dass wir bei dem Antiquariat vorbeischauen“, fügte Theresa hinzu.
„Gut, dann komme ich mit“, sagte Titus.
„Sie fühlen sich wirklich dazu in der Lage?“, sorgte sich Gregors Assistentin. Erneut machten sie ihr dunkler Lidschatten und ihre kirschroten Lippen äußerst reizvoll.
„Wieso nicht?“
„Wolltest du nicht schreiben?“
„Keine Ideen.“
„Dann halten wir uns hier nicht länger auf.“
Das Antiquariat hatte geöffnet.
Die Besitzerin entpuppte sich als eine Frau von Anfang Vierzig mit roter Strickjacke und brauner Kordhose. Sie hatte kurze blonde Haare und einen humorlosen Gesichtsausdruck. Statt Schuhen trug sie graue Filzpantoffeln. Sie beobachtete Titus, Gregor und Theresa mit missmutigen Blicken, während diese die Regale durchstöberten.
Theresa und Gregor wurden sofort fündig und hatten im Nu einen ganzen Stapel Abhandlungen über Geister, Dämonen und andere nächtliche Kreaturen zusammengetragen.
Titus sprach die Auswahl der Bücher weniger an. Es gab kaum Romane. Allerdings entdeckte er unter dem Buchstaben H tatsächlich ein zerlesenes Exemplar eines seiner Lesbenthriller mit dem Titel Stadt am Meer. Es ging darin um zwei Studentinnen, die einem düsteren Geheimnis auf die Spur kamen. Titus hielt es für eines seiner besten Romane, auch wenn Kritiker behauptet hatten, dass die Leser dieses Buch vor allem wegen der deftigen Sexszenen kaufen würden. Vielleicht taten sie das. Ihm war es eigentlich egal. Die Hauptsache bestand darin, dass seine Geschichten Anklang fanden.
Eine dunkle Wolke trübte plötzlich seine Erinnerungen. War sein Können tatsächlich mit seiner Muse verschwunden? Resigniert stellte er den Roman zurück und setzte seine Suche nach brauchbarer Literatur fort. Schließlich nahm er ein Buch über Untote.
Die Verkäuferin, welche die ganze Zeit über hinter der Theke gestanden hatte, tippte den Preis in die altertümliche Kasse ein. „Gehören Sie zu den anderen Touristen?“, wollte sie wissen.
Titus horchte auf. „Welche anderen Touristen?“
„Vor Ihnen kamen ein Mann und eine Frau herein. Kauften allerdings nichts.“
„Ein Mann und eine Frau?“, fragte nun Gregor.
„So ein bulliger Typ mit Schnauzbart und dicker Nase …“
Gregor fielen beinahe die Bücher aus den Händen. „Mohn.“
„Wie bitte?“
„Der Name des Mannes lautet Mohn.“
„Sie gehören also zusammen?“
Gregor gab ein höhnisches Lachen von sich. „Um Gotteswillen! Mit diesem Mann möchte ich nichts zu tun haben.“
„Und wer war die Frau?“, fragte Titus.
„Bestimmt seine Assistentin“, behauptete Gregor. „Dann war er es, der dich gestern niedergeschlagen hat.“
Titus bezahlte sein Buch.
„Sie wurden niedergeschlagen?“, wollte die Besitzerin wissen.
„Am Friedhof.“
Die Antiquarin wich erschrocken zurück. „Was suchen Sie auf dem Friedhof?“
„Es geht um die Gräber …“
Gregor stieß Titus in den Rücken.
„Sie wollen also auch hier herumschnüffeln?“
„Wir schnüffeln nicht herum“, erwiderte Theresa ernst. „Wir sind Wissenschaftler.“
„Sie mischen sich in unsere Angelegenheiten ein“, gab die Frau zurück. „Das ist nichts anderes als herumzuschnüffeln.“
„Wie Sie das bezeichnen, ist mir im Grunde genommen egal“, meinte Gregor. „Auf jeden Fall führen wir hier wissenschaftliche Studien durch.“
Die Antiquarin tippte mürrisch die Preise der Bücher ein, die Gregor auf die Theke gelegt hatte. „Wo wohnen Sie eigentlich? In Tiefenfall gibt es keine Hotels.“
„Neben dem Friedhof“, antwortete Theresa.
Die Frau stockte beim Eintippen. „Im Haus der Bardins?“
„Genau da“, bestätigte Gregor, einen warnenden Blick auf seine Assistentin werfend. „Lisa Bardin vermietet uns das Haus für längere Zeit.“
In den Augen der Frau züngelten Flammen. „Lisa Bardin.” Der Name kam zischend über ihre Lippen. Sie machte ein Kreuzzeichen und spuckte auf den Boden.