Der Traum: mehrbuch-Weltliteratur. Herbert George Wells

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blickte mit hochgezogenen Augenbrauen und hilflosem Ausdruck zu Salaha hinüber.

       Sarnac starrte sie in traumhafter Verwunderung an. »Milly«, wiederholte er ganz leise. »Sie stand am Fenster.«

      Einige Augenblicke lang sprach niemand.

      Beryll stand, den Arm um Iris' Schulter gelegt.

      »Erzähle uns mehr davon, Sarnac. War es schlimm, zu sterben?«

      »Es war mir, als sänke ich hinab, immer tiefer, in einen ganz stillen Raum – und dann erwachte ich hier oben.«

      »Erzähle es uns, solange es noch als lebendige Wirklichkeit vor dir steht.«

      »Wollten wir nicht das Schutzhaus vor Anbruch der Nacht erreichen?« sagte Salaha mit einem Blick nach der Sonne.

      »Fünf Minuten von hier entfernt steht ein kleines Gästehaus«, meinte Iris dagegen.

      Beryll setzte sich neben Sarnac. »Erzähl' uns deinen Traum gleich. Wenn dir die Erinnerung daran schwindet oder deine Erzählung uns nicht interessiert, gehen wir weiter; fesselt sie uns aber, so hören wir dich hier zu Ende und übernachten in dem kleinen Hause. Der Platz hier ist schön, die grauvioletten Felsen mit dem leichten Nebeldunst in den Spalten sind so herrlich, daß ich sie eine Woche lang betrachten könnte, ohne zu ermüden. Erzähl' uns deinen Traum, Sarnac.«

      Er schüttelte den Gefährten. »Wach auf, Sarnac!«

      Sarnac rieb sich die Augen. »Es ist eine so seltsame Geschichte. Und so vieles wird zu erklären sein.«

      Er dachte eine Weile nach.

      »Es ist eine lange Geschichte.«

       »Das versteht sich, wenn sie einen ganzen Lebenslauf schildert.«

      »Ich will erst für uns alle Rahm und Obst aus dem Gästehaus herbeiholen,« sagte Iris, »dann möge Sarnac mit seiner Erzählung beginnen. Fünf Minuten nur, und ich bin wieder da.«

      »Ich komme mit«, sagte Beryll und eilte ihr nach.

      Was nun folgt, ist die Geschichte, die Sarnac erzählte.

       Der Anfang des Traumes

      1

      »Mein Traum begann,« sagte er, »wie unser aller Leben beginnt, in Bruchstücken, mit einer Reihe unzusammenhängender Eindrücke. So entsinne ich mich zum Beispiel, daß ich einmal auf einem Sofa lag, auf einem Sofa, das mit einem merkwürdig harten, rot und schwarz gemusterten, schon fadenscheinigen Stoff bezogen war; ich schrie – warum, weiß ich nicht mehr. Mein Vater erschien in der Tür des Zimmers und blickte mich an. Er sah unheimlich aus, war halb bekleidet, in Hosen und einem Flanellhemd, und das blonde Haar stand ihm ungebürstet in die Höhe; er rasierte sich eben und hatte das Kinn voll Seifenschaum. Und er war böse, weil ich schrie. Ich glaube, ich hörte alsbald zu schreien auf, bin dessen aber nicht sicher. Ein andermal kniete ich auf demselben harten, rot und schwarz gemusterten Sofa neben meiner Mutter, sah zum Fenster hinaus – das Sofa stand gewöhnlich mit der Rückseite gegen das Fensterbrett – und beobachtete, wie der Regen auf die Straße fiel. Das Fensterbrett roch ein wenig nach Farbe – weiche, schlechte Farbe war es, die in der Sonne Blasen geworfen hatte. Es regnete heftig und die Straße, aus sandigem, gelblichem Lehm, war schlecht. Sie war mit schmutzigem Wasser bedeckt, und der Regenguß verursachte eine Menge glänzender Blasen, die der Wind vor sich her trieb, bis sie platzten und ihnen wieder neue folgten.

      ›Schau sie dir an, Liebling,‹ sagte meine Mutter, ›wie Soldaten.‹

      Ich glaube, ich war noch sehr klein, als sich dies ereignete, aber ich hatte doch schon oft Soldaten mit Helmen und Bajonetten vorübermarschieren gesehen.«

      »Das dürfte also einige Zeit vor dem Großen Krieg und dem sozialen Zusammenbruch gewesen sein«, sagte Beryll.

      »Ja, einige Zeit«, erwiderte Sarnac. Er dachte nach. »Einundzwanzig Jahre vorher. Das Haus, in dem ich geboren wurde, war kaum drei Kilometer von dem großen britischen Militärlager zu Lowcliff in England entfernt; zur Eisenbahnstation Lowcliff hatten wir nur einige hundert Schritt zu gehen. ›Soldaten‹ waren die auffälligste Erscheinung in meiner Welt außerhalb meines Heims. Sie trugen lebhaftere Farben als andere Leute. Meine Mutter pflegte mich jeden Tag in einem sogenannten Kinderwagen spazieren zu fahren, damit ich an die frische Luft käme, und so oft Soldaten auftauchten, rief sie: ›Ei, die schönen Soldaten!‹

      ›Soldaten‹ muß eines meiner frühesten Wörter gewesen sein. Ich zeigte mit meinem in Wolle gehüllten Fingerchen auf sie – damals zog man nämlich den Kindern ganz unglaublich viel an, und ich trug sogar Handschuhe – und sagte: ›Daten.‹

       Ich will versuchen, euch zu schildern, wie mein Heim beschaffen und was für Leute meine Eltern waren. Dergleichen Haushalte, Wohnhäuser und Orte gibt es nun seit langem nicht mehr, es sind uns kaum Überreste von ihnen erhalten, und wenn ihr auch wahrscheinlich viel über die damalige Lebensweise gehört und gelernt habt, so bezweifle ich doch, daß ihr euch die Dinge, die mich umgaben, richtig vorstellen könnt. Der Name des Ortes war Cherry Gardens; er gehörte zu dem größeren Ort Sandbourne und war etwa drei Kilometer vom Meer entfernt. Auf der einen Seite lag die Stadt Cliffstone, von der aus Dampfschiffe nach Frankreich hinüber verkehrten, auf der andern Lowcliff mit seinen endlosen Reihen häßlicher roter Ziegelbauten für das Militär und einem großen Exerzierplatz. Landeinwärts erstreckte sich eine Art Plateau, von neuen, roh beschotterten Straßen durchzogen – ihr könnt euch nicht vorstellen, was für Straßen das waren! – und bedeckt von Gemüsegärten und eben fertiggestellten oder noch im Bau begriffenen Häusern; und dahinter kam eine Hügelkette, nicht sehr hoch, aber ziemlich steil, mit Gras bewachsene, sonst jedoch kahle Hügel, die Downs. Die Downs bildeten einen reizvollen Abschluß meiner kleinen Welt gegen Norden, während sie im Süden von einem saphirfarbenen Meeresstreifen begrenzt wurde, und diese ihre beiden Grenzlinien waren wohl das einzig wahrhaft Schöne in ihr. Alles übrige war von menschlicher Verworrenheit berührt und entstellt worden. Schon als ganz kleiner Junge dachte ich oft, was wohl hinter jenen Hügeln liegen möge, doch erst in meinem siebenten oder achten Jahre trieb mich die Wißbegier, sie zu besteigen.«

       »Gab es damals noch keine Aeroplane?« fragte Beryll.

      »Die ersten Flugversuche wurden gemacht, als ich elf oder zwölf Jahre alt war. Ich sah den ersten Aeroplan, der den Kanal zwischen dem europäischen Festland und England überquerte. Er galt als etwas ganz Wunderbares. (»Das war er wohl auch«, meinte Heliane.) Ich zog mit einer Schar anderer Knaben aus, und wir drängten uns durch die Menge, die sich rings um die sonderbare Maschine gesammelt hatte und sie anstarrte – sie glich einer riesigen Heuschrecke aus Segeltuch mit ausgespannten Flügeln –, es war auf einem Feld in der Nähe von Cliffstone. Man bewachte das Wunderding, die Leute wurden mittels Stangen und Seilen davon ferngehalten.

      Es fällt mir schwer, euch zu schildern, was für Orte Cherry Gardens und Cliffstone waren – obwohl wir eben die Ruinen von Domodossola besucht haben. Auch die Stadt Domodossola muß recht planlos angelegt gewesen sein, aber jene beiden Orte breiteten sich noch weit zweck- und sinnloser über Gottes Erdboden hin aus. Ihr müßt wissen, daß die dreißig oder vierzig Jahre, die meiner Geburt vorangingen, eine Zeit verhältnismäßigen Wohlstands, eine Periode der Produktivität gewesen waren. Selbstverständlich war dies in jenen Tagen keineswegs das Resultat irgendwelcher Staatskunst oder Voraussicht; es ergab sich zufällig – etwa so, wie sich mitten im Lauf eines Regen-Sturzbaches da oder dort ein ruhiger kleiner Tümpel bildet.

      Die Geld- und Kreditgebarung funktionierte leidlich gut; Handel und Verkehr blühten; es gab keine weit um sich greifenden Seuchen, nur wenige größere Kriege und etliche besonders gute Ernten. Das Ergebnis dieses Zusammenwirkens günstiger Bedingungen war ein deutlich wahrnehmbarer Aufschwung in der Lebensführung der Allgemeinheit; doch wurde dieser Fortschritt durch eine starke Bevölkerungszunahme zum größten Teil wieder aufgehoben. ›Damals wurde der Mensch sich selbst zur Heuschreckenplage‹, wie es in unseren Schulbüchern heißt.


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