Tote Weinbergschnecken schleimen nicht. Janet Borgward
goss eine Flüssigkeit ein, deren Farbe und Konsistenz an Teer erinnerten. „Was ist das für ein Kuchen?“ Cara schob die Kaffeetasse unschlüssig von der rechten auf die linke Seite ihres Tellers. „Ein Rahmkuchen. Ohne Rosinen.“ Gut, dass sie die Kaffeesahne weggelassen hatte, dachte Cara. Ihr Ex-Mann predigte seit Monaten, dass sie in ihrem Alter mehr auf ihr Gewicht achten müsse. Sie ließe sich gehen, meinte er. Voller Neid sah sie zu Marie Steiert, die sich drei Löffel Zucker in den Kaffee schaufelte und eine ordentliche Portion Sahne dazugab. „Grausige Geschichte“, setzte Marie erneut an und rührte so energisch den Löffel in ihrer Tasse, dass Sahne auf den Unterteller schwappte. „Ja. In der Zeitung wird man sicher darüber berichten.“ Ausweichend sah Cara sich in der Küche um. Fotos von einem Jungen und einem Mädchen im Wandel der Zeit: Bei der Einschulung, Kommunion und Abiturfeier. Zwei schlaksige Teenager mit ernstem Blick. „Ihre Kinder?“ „Ja. Basti und Marlene.“ Marie starrte versonnen auf ihre Kaffeetasse. Ein wunder Punkt in ihrer Familienchronik. Nicht geeignet, um mit einem fremden Feriengast darüber zu schwätzen. „Kommen in dem Gelände, in dem der Unfall passierte, Erntemaschinen zum Einsatz?“, fragte Cara. „Für einen Vollernter sind die Terrassen dort ungeeignet. Es gibt keine Möglichkeit zum Wenden“, seufzte Marie, dankbar für den Themenwechsel. „Die Steigung beziehungsweise das Gefälle wäre aber unproblematisch?“ „Wie meinen Sie das?“ „Mir kam der Hang nicht sonderlich steil vor.“ „Das sind schon so um die 20 Prozent. Aber für einen Vollernter stellen selbst 30 Prozent kein Problem dar. Dagegen sind die Zwischenräume der angelegten Terrassenflächen, dort, wo der Unfall passierte, zu eng. Der Fahrer wäre gezwungen, rückwärts in die nächste Reihe einzubiegen.“ „Ein Stück weiter vorne würde man eine Erntemaschine wieder einsetzen?“ „Nur wenn man lebensmüde ist. Bei der damaligen Planung der Terrassen war der Gebrauch von Vollerntern nicht vorgesehen. Das kam erst Anfang der 80er Jahre. In Lausgrott kommen sie ausschließlich in flachen Lagen, wie beispielsweise am Ortsausgang, zum Einsatz. – Aber was ich Sie fragen wollte: Was ist eigentlich gestern im Reblaus Stüble vorgefallen?“ Sie fegte ein paar Kuchenkrümel vom Tisch und sah Cara abwartend an. „Inwiefern?“ „Ich habe gehört, es gab da einen Zwischenfall. Eine Touristin soll belästigt worden sein.“ „Tatsächlich?“ „Ja. Waren Sie das?“ „Wie kommen Sie darauf?“ „Das Reblaus Stüble liegt nahe der Ferienwohnung.“ „Der Vorfall scheint sich ja schnell herumgesprochen zu haben“, grummelte Cara und nagte an ihrem Daumennagel. „Zwei Burschen kamen herein, setzten sich bei mir an den Tisch. Einer der beiden griff nach meinem Weinglas und trank daraus.“ Sie schüttelte den Kopf. „Sachen gibt’s.“ „Also ist da doch etwas dran an der Geschichte.“ Maries Augen weiteten sich vor Sensationslust. „Ich habe ja gleich gesagt, die werden dem Reni nicht den Umgang mit der Emilia verbieten können. Aber dass der dann so arg provoziert …“ „Wer sind die beiden? Reni und Emilia?“ „Die Emilia ist unsere Weinkönigin“, verkündete Marie mit leidenschaftlichem Tonfall. „Das ist die Tochter vom Linder, dem Wirt aus dem Reblaus Stüble. Und die ist mit einem der beiden Elsässer Brüder zusammen. Reni Durand. Das ist der Jüngere“, setzte sie Cara ins Bild. „Haben die Geschwister deshalb Hausverbot im Reblaus Stüble?“ „Nicht nur deswegen. Nachdem die Emilia zu unserer Weinkönigin gewählt wurde, passte dem Leonard der Umgang mit denen erst recht nicht.“ „Und was ist der Grund dafür?“ „Weil die Konkurrenten sind.“ „Die Burschen sind Winzer?“ „Ja, aber eben aus dem Elsass.“ „Was ist daran verwerflich?“ „Um das zu begreifen, muss man hier geboren sein.“ Maries Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln. „Ich bin lernfähig.“ „Ist eine längere Geschichte.“ „Kommt darin ein Pinot Noir vor?“ Marie sah sie verständnislos an. „Pinot Noir?“ „Einer der Brüder unterstellte Herrn Linder, dass sein Wein nur deshalb prämiert worden wäre, weil er den richtigen Kellermeister kenne. Er empfahl mir einen Pinot Noir zum Vergleich.“ „So? Sagt er das?“, bemerkte Marie skeptisch. „Bisher nahm ich an, Pinot Noir und Spätburgunder seien unterschiedliche Weine. Da ich überzeugte Altbiertrinkerin bin, kenne ich mich mit den Klassifizierungen nicht sonderlich aus“, räumte Cara ein. „Pinot Noir und Spätburgunder sind zwei Bezeichnungen für die gleiche Sorte“, klärte Marie sie auf. „Man findet die Rebsorte vor allem in Weinbaugebieten wie im französischen Burgund oder dem Elsass.“ Bereitwillig unterwies sie die Kommissarin in die Techniken des Weinanbaus. „Der Pinot Noir ist schwierig anzubauen, da der Rebstock anfällig für Krankheiten ist. Die Traubenhaut ist dünn.“ Sie goss sich eine weitere Tasse Kaffee ein. „Die Durands versuchten, ihre Rebsorten aus dem Elsass in Lausgrott einzuführen. Schon immer. Dafür haben sie hier aber den falschen Boden.“ Sie schürzte die Lippen. „Wir haben vorwiegend Vulkangestein. Lössboden. Dazu kommt, dass die Sommer von Jahr zu Jahr heißer werden. Es regnet kaum. Ein erfolgreicher Winzer passt sich den Gegebenheiten an.“ Marie hatte nie begriffen, warum die Durands so sehr darauf beharrten. Selbst beim drastischen Rückgang ihrer Erträge blieben sie unbelehrbar. „Und die Durands sind da anders geartet?“ „Sie sind rebellisch, halten sich nicht an unsere Regeln. Erst recht, seit die Söhne aus dem Teenageralter herausgewachsen sind. Der alte Durand hat seine liebe Mühe mit denen. Hat selbst mal gesagt, dass er sie am liebsten im Haus behalten würde.“ Ihre Wangen hatten vor Eifer wieder einen rosigen Schimmer angenommen. „Wer ist dieser Karl Erchinger, von dem Sie gestern sprachen?“ „Wie kommen Sie jetzt auf den?“, fragte Marie verwirrt. „Der Name fiel im Reblaus Stüble – und Sie erwähnten ihn gestern im Zusammenhang mit einer furchtbaren Geschichte, die ihm widerfahren sei.“ Marie legte ihre Kuchengabel sorgfältig neben dem Teller ab und strich die Tischdecke glatt. „Der Erchinger Karl, das war ein trauriges Ereignis. Grad mal fünfzig bekommt der einen Herzanfall bei der Arbeit.“ Sie lud sich ein zweites Stück Kuchen auf den Teller und sah Cara fragend an. Sie lehnte dankend ab. „Der Karl war Kommissar im Polizeirevier Lausgrott“, erklärte sie. „Aha. Und wegen des plötzlichen Ablebens des Kollegen Erchinger nahmen Sie an, ich käme extra aus Düsseldorf hierher?“ „Was? Nein.“ Sie lachte. „Theo Conrads het Ihre Noome erwäähnt, wiil e Kolleeg us Friiburg quasi in letschter Sekund die Arbit in Lausgrott abglehnt het.“ Cara sah Marie irritiert an. „Verstehen Sie, was ich sage?“, bemühte sich Marie nun wieder auf Hochdeutsch. „Nicht genau.“ „Theo Conrads erwähnte Ihren Namen, weil ein Kollege aus Freiburg quasi in letzter Sekunde die Anstellung in Lausgrott ablehnte. – Mit der Zeit werden Sie das Badische verstehen. Hat viel mit dem Alemannischen gemein.“ Es stand nicht in Caras Absicht, ihren Aufenthalt in Lausgrott zu verlängern. „Theo hat Ihnen gegenüber erwähnt, dass ich die Nachfolge von Kommissar Erchinger antrete, anstatt der Kollege aus Freiburg?“, hakte sie nach. „Ja.“ „Warum?“ „Weil“, Marie zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, „mein Bruder andere Pläne hatte.“ Sie sah an Cara vorbei zu einem imaginären Punkt an der Wand. „Ihr Bruder ist bei der Polizei?“, fragte Cara ungläubig. „Ja, in Freiburg. Wissen Sie, ich wollte damals ebenfalls Polizistin werden.“ Marie wusste, dass man sie in Lausgrott dafür belächelte. Aber Cara war neu hier. Sie sollte nicht von dem Geschwätz der Leute beeinflusst werden, die sich darüber den Mund zerrissen. Ihr war daran gelegen, dass die Kommissarin es von ihr erfuhr. „Aber das haben meine Eltern nicht zugelassen.“ Sie seufzte. Ein verbitterter Ausdruck zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. Sie starrte auf ihre Hände, die harte Arbeit gewöhnt waren. „Winzerin war nicht mein Traumberuf. Aber in Lausgrott ist man Winzer, heiratet einen Winzer und die Kinder werden Winzer.“ Ihre Augen blitzen angriffslustig. „Der Weinbau allein reicht nicht zur Lebensgrundlage. Erst recht nicht, wenn der Ehemann seinen Wein selbst in hohem Maß verköstigt und die Kinder aus dem Haus treibt.“ Ihre anklagenden Worte öffneten für einen winzigen Moment eine Türe ihres Seelenlebens. „Ich habe mich ja noch gar nicht bedankt für den regionalen Willkommensgruß in meiner Wohnung“, lenkte Cara ein in dem Bemühen, die entstandene Disharmonie abzuschwächen. Marie nickte beiläufig und pickte mit der Kuchengabel die restlichen Krümel von ihrem Teller auf. „Wann ist Kommissar Erchinger denn gestorben?“ „Das ist noch gar nicht so lange her. Vor zwei Wochen.“
Kapitel 5
Cara genoss ihr Frühstück auf dem Balkon mit Blick auf die Weinberge des Kaiserstuhls. Zumindest versuchte sie sich einzureden, dass sie Gefallen daran fand. Stattdessen war sie von einer unbestimmten Unruhe erfasst. Urlaub sah anders aus.
Neben