Tote Weinbergschnecken schleimen nicht. Janet Borgward
„Das Herbsten, die Weinlese, steht in der Endphase. Durch die heißen Sommer der letzten Jahre geschieht dies immer früher. Zu meiner Jugend lag um diese Zeit bereits der Schnee auf den Trauben. Jetzt dagegen treibt einen die Hitze schon mittags aus den Weinbergen heraus. Der dringend benötigte Regen bleibt in Lausgrott aus und entlädt sich dafür in den Nachbarorten mit Starkregen oder Hagel.“ Zum Glück sah sie rechtzeitig wieder auf die Straße, um ihren Wagen in der Spur zu halten, und nicht mit einem entgegenkommenden Traktor zu kollidieren. Unbeeindruckt plauderte sie weiter. „Die meisten sind Winzer im Nebenerwerb und schaffen in einem anderen Beruf“, klärte sie Cara auf, die ihr mit Interesse zuhörte. „Die Jungen zieht es oftmals in die Städte. Sie haben kein Verlangen danach, die elterlichen Höfe zu übernehmen. Nach der Weinlese fallen Reparaturen an. Pfosten werden neu gesetzt und Drähte gezogen. Für den Winterschnitt eignet sich der Januar, im Frühjahr bricht man überflüssige Triebe aus. – Verstehen Sie?“ „Ansatzweise“, bekannte Cara, die mit dem ausgeprägten Dialekt noch ihre Schwierigkeiten hatte. Marie war in ihrem Element. „Im Mai gefährden oftmals späte Nachtfröste die empfindlichen Triebe. Frühzeitiges Spritzen verhindert, dass das frische Grün von Schädlingen befallen wird.“ In letzter Sekunde bog sie in die Ortseinfahrt von Oberrotweil ab. Umgeben von Weinbergen unterschied sich der Ort im Wesentlichen kaum von Lausgrott, nur dass er deutlich weniger Einwohner zählte. Marie fuhr an einem Sportplatz vorbei und einen steilen Wirtschaftsweg hinauf. Dieser endete auf einem terrassenförmigen Plateau, welches eine unverbaute Weitsicht in die Rheinebene bis hin zu den Vogesen bot. Sie parkte hinter einem abgestellten Anhänger, der mit leeren Bottichen beladen war. „Was für ein Panorama“, schwärmte Cara und ließ die Aussicht auf sich wirken. „Freut mich, dass es Ihnen gefällt. Auch, dass Sie mir beim Herbsten helfen. Zu dieser Zeit ist man dankbar für jede Unterstützung.“ „Besitzen Sie eigene Reben?“ „Ein paar Ar.“ Marie verzog das Gesicht. „Meine Mitgift.“ Sie reichte Cara eine mit einem karierten Küchentuch abgedeckte Klappkiste. „Stellen Sie die Kiste da neben dem umgekippten Bottich ab. Den benutzen wir nachher als Tisch.“ Geschäftig lud sie Eimer auf bereitgestellte Handkarren ab und forderte Cara auf, einen davon für sich mit in die Reben zu nehmen, gab ihr Gummihandschuhe und eine Schere. Cara erhielt eine kurze Einweisung in ihr neues Aufgabengebiet – nur die unteren Trauben, damit die darüber Hängenden weiter zur Reife kamen, keine mit Schimmel überzogenen Weintrauben. „Die Verfahren der Weinlese sind so verschieden wie die dabei eingesetzten Techniken – in Handarbeit oder mit dem Traubenvollernter.“ „Wann setzt man Vollernter ein?“, erkundigte sich Cara. „Darüber entscheidet ein Stück weit die persönliche Philosophie von uns Winzern.“ „Wie funktionieren die Maschinen?“ Marie fühlte sich geschmeichelt von Caras Wissbegier. Bereitwillig beantwortete sie all ihre Fragen. „Die Vollernter fahren über die Reihen der Rebstöcke hinweg und rütteln die Trauben ab. Diese werden mit einem Förderband automatisch in einen Auffangbehälter geleitet. Die kommen heraus, wie Erbsen aus der Dose.“ „Leiht man sich die Vollernter beim Raiffeisenmarkt oder wo?“ Marie schmunzelte und klärte sie auf: „Nein, so funktioniert das nicht. Das wird bei der Winzergenossenschaft angemeldet. Die schicken jemanden raus, der sich die Fläche anschaut. Prüfen, ob dort ein Vollernter einsetzbar ist und ob die Reben gepflegt aussehen. Erst dann übernimmt ein Subunternehmer die Arbeit.“ „Man fährt den geliehenen Traubenvollernter nicht selbst?“ „Nein. Jetzt hat Sie der Kaiserstuhl aber gepackt, was?“ Cara murmelte etwas Unverständliches und folgte ihr durch die Reihen rötlicher Trauben, die walzenförmig in dichten Beeren rechts und links unter den Reben hingen. „Was ist das? Rotwein?“ Marie lugte mit einem amüsierten Lächeln zwischen dem Blattwerk hervor. „Das ist Grauburgunder. Eine weiße Rebsorte, obwohl sich die Beerenhaut bis zur Ernte rötlich bis rot, manchmal auch grau einfärbt. Probieren sie mal“, forderte sie Cara auf, die daraufhin einzelne Beeren herauspulte und sie sich genüsslich auf der Zunge zergehen ließ. „Und?“ „Schmeckt fruchtig. Nach Birne?“ „Ausgezeichnet“, lobte Marie. „Der Grauburgunder hat später im Glas einen Geschmack nach Birne, getrockneten Früchten und Nüssen.“ Bei ihrer anschaulichen Schilderung schmeckte Cara förmlich den gereiften Wein auf ihrer Zunge. Sollte sie am Ende doch an dem Rebensaft mehr Gefallen finden als an Altbier? Eine Weile arbeiteten die beiden schweigend. Rasch füllten sich ihre Eimer. „Das scheint Ihnen ja Spaß zu bereiten“, lobte Marie. Sie hatten vier Reihen geherbstet. Ihre Worte verfehlten die positive Anerkennung. Caras Eifer schlug augenblicklich in eine verdrießliche Stimmung um. „Da ich ja nun länger am Kaiserstuhl verweile, muss ich mir andere Hobbys suchen als daheim in Düsseldorf.“ „Wie das jetzt?“ Marie hielt in ihrer Arbeit inne. „Das müsste ich eigentlich Sie fragen. Sie wussten von meiner Versetzung, ehe es den offiziellen Weg nahm.“ „Oh. Ich nahm an, das sei Ihnen bekannt.“ Peinlich berührt stieg ihr die Röte ins Gesicht. „Nein. Bisher besprach mein Chef interne Abläufe mit mir.“ „Das ist mir jetzt aber unangenehm. Vielleicht sollten wir eine Brotzeit einlegen?“, schlug Marie ausweichend vor. Sie war davon ausgegangen, die Kommissarin wüsste Bescheid. „Gute Idee.“ Cara verschränkte die Arme vor der Brust. Marie kehrte ihr den Rücken zu. Unter dem drucklosen Strahl eines Wasserkanisters spülte sie ihrer beider Arbeitshandschuhe und Scheren ab, goss sich Wasser über die klebrigen Finger. „Benötigen wir die Scheren nicht mehr?“, fragte Cara spitz. „Für heute sind wir fertig.“ Marie deckte den mitgebrachten Korb auf, brachte eine Tischdecke mit verblasstem Blümchenmuster hervor und breitete diese über den umgestülpten Bottich aus. Eine Flasche Riesling, Wasser, Kartoffelsalat und Brezeln rundeten das Picknick darauf ab. „Mögen Sie eine Brezel?“ Zögernd langte Cara zu. „Wann hatte Ihr Bruder denn seinen Versetzungsantrag nach Düsseldorf gestellt?“ „Ja, ehrlich gesagt, das kam jetzt für mich auch überraschend.“ Sie rollte ihre Papierserviette unter den Fingern. „Letzten Samstag sprachen Sie davon, dass ihr Bruder andere Pläne hatte, die Ihnen nicht zu gefallen schienen. Er lehnte die Nachfolge für den verstorbenen Kollegen Karl Erchinger ab und entschied sich für Düsseldorf. Warum?“ „Keine Ahnung. Über seine Arbeit tauscht er sich nicht mit mir aus.“ Das Thema behagte ihr nicht. Sie pulte Krümel aus ihrer Brezel, die sie zwischen Daumen und Zeigefinger bearbeitete. „Verständlich. Aber es ist schon ein entscheidender Schritt, Freiburg gegen Düsseldorf einzutauschen.“ „Ja, aber Sie wollten ja letztlich auch aus Düsseldorf weg“, stellte Marie klar. „Nicht wirklich.“ „Nicht? Tja … ich will da jetzt nicht wieder ins Fettnäpfchen treten. Die genauen Umstände sind mir schließlich nicht bekannt.“ Sie mischte sich eine Weinschorle und trank einen kräftigen Schluck. „Welche?“, hakte Cara nach. Marie kratzte sich verlegen am Kopf. „Ich glaube, der Albert, mein Bruder, ist da in irgendeine Sache hineingeraten. Aber das haben Sie jetzt nicht von mir.“ Ihr Gegenüber strich sich mit Daumen und Zeigefinger über die Lippen, um sie symbolisch zu versiegeln. „Vor zwei Jahren kam es nach der Wahl zur badischen Weinkönigin auf dem alljährlich bei uns stattfindenden Winzerfest zu einem tragischen Zwischenfall. Ich war an dem Tag nicht auf dem Fest, habe aber gehört, dass die Wackes den Streit angezettelt haben. Albert war ebenfalls unter den Gästen. Obwohl er Polizist ist, konnte er nicht verhindern, dass in dem ausbrechenden Tumult der Lurchberger Tobias stürzte und sich das Genick brach.“ „Ich kann Ihnen da jetzt nicht genau folgen. Was hat Wacken mit Ihrem Weinfest gemein?“ Sie kannte Wacken nur im Zusammenhang mit einem Ort in Schleswig-Holstein und dem dort alljährlich stattfindenden Heavy-Metal-Festival. Marie sah sie irritiert an, dann begriff sie. „Das ist mir jetzt so rausgerutscht. Wackes ist der alemannische Begriff für Elsässer.“ „Also ein Schimpfwort?“ „Ja.“ „Und wie war Ihr Bruder in den Streit hineingeraten?“ „Wie gesagt, ich selbst war ja nicht dabei. Aber seitdem sind die Wa… die Elsässer“, verbesserte sie sich rasch „erst recht ein rotes Tuch für Lausgrott.“ „Wie kam es dazu?“, versuchte Cara ihren Wissensrückstand aufzuholen. „Nach so langer Zeit weiß das keiner mehr genau. Albert griff in den Streit ein. In dem Gerangel geriet der Tobias – Gott hab ihn selig – zwischen die Biertischgarnitur, schlug mit dem Hinterkopf auf und brach sich das Genick. Alle bezeugten, dass meinen Bruder keine Schuld traf. Dennoch gab es ein Verfahren gegen ihn. Dabei hatten die Durand-Brüder den Streit angezettelt“, nahm sie Albert in Schutz. „Dass es einer von ihnen war, ließ sich aber nicht beweisen. Damit stand es Aussage gegen Aussage.“ Sie räumte die Reste des Picknicks zusammen und verstaute ihre Arbeitsgeräte im Kofferraum ihres Wagens. „Für heute sind wir fertig hier. Die vollen Anhänger holt später ein Nachbar von mir ab.“