DER REGENMANN. Eberhard Weidner
er im Haus war, schob er die Tür hinter sich zu, obwohl sie jetzt natürlich nicht mehr schloss, und lauschte auf die Geräusche aus dem Haus. Er hörte allerdings nichts, nur das beständige Rauschen des Regens außerhalb des Hauses.
Geh nach oben! Kümmere dich um die Frau!
Obwohl die Regentropfen ihn hier drinnen nicht mehr erreichten, konnte er die Stimme des Regens noch immer hören, denn er prasselte weiterhin gegen die Scheiben hinter ihm und auf das Dach des Hauses und veränderte dabei ständig seinen Rhythmus. Die Regentropfenstimme klang zwar gedämpft und etwas undeutlich, dennoch verstand der Regenmann noch immer jedes einzelne Wort.
Er verstaute den Schraubenzieher und schloss den Reißverschluss des Parkas. Dann zog er ein Jagdmesser mit fünfzehn Zentimeter langer Edelstahlklinge und Hirschhorn-Griffschalen aus der Scheide, die er in den Bund seiner Regenhose geschoben hatte. Anschließend machte er sich mit vor Aufregung und Vorfreude heftig klopfendem Herzen umgehend auf den Weg nach oben.
Von der Katze war nichts zu sehen. Vermutlich hatte sich der kleine haarige Feigling irgendwo verkrochen. Der Regenmann war einerseits froh darüber, denn auf diese Weise konnte er seine Aufgabe exakt so erfüllen, wie der Regen es ihm gesagt hatte. Allerdings würde er nach der Tötung der Frau nach dem blöden Tier suchen müssen, um es ebenfalls wie geplant zu erledigen.
Auf halber Höhe der Treppe hörte er erstmals das Rauschen der Dusche im Badezimmer, das bislang vom Regen übertönt worden war. Langsam näherte er sich der Tür, das Messer zum Zustoßen bereit in der Faust. Dabei bemühte er sich nicht einmal, besonders leise zu sein oder sich anzuschleichen, denn solange die Frau unter der Dusche stand, konnte sie ihn ohnehin nicht hören. Er hob die freie linke Hand, um sie auf die Klinke zu legen und die Tür zu öffnen, als ihn die Stimme des Regens abrupt innehalten ließ.
Warte!
Der Regenmann verharrte sofort regungslos, als wäre er schockgefroren worden. Er wagte keinen Muskel zu rühren, solange der Regen es ihm nicht erlaubte. Und er hinterfragte die Anweisung seines Mentors auch nicht. Der Regen war viel schlauer und erfahrener als er und hatte mit Sicherheit gute Gründe dafür, ihn zurückzuhalten.
Wenige Augenblicke später verstummte das Rauschen der Dusche.
Der Regenmann erbebte vor Aufregung und mühsam unterdrückter Vorfreude, denn jetzt konnte es jeden Augenblick so weit sein. Er stand wie eine gespannte Feder so dicht vor der Badezimmertür, dass er sie beinahe berührte, während seine zitternde Hand über der Türklinke schwebte, um die Tür sofort aufreißen zu können, sobald der Regen endlich das Kommando dazu gab.
Gleich!, raunte die gedämpfte Tropfenstimme des Regens, der die Ungeduld seines Schützlings natürlich spürte. Gleich ist es so weit!
4
Sobald Anja das Wasser abgestellt und die Tür der Dusche geöffnet hatte, griff sie nach dem Handtuch und trocknete sich etwas ab, sodass sie nicht länger tropfnass war. Erst dann verließ sie die Duschkabine und trat auf den Badvorleger, um sich im Spiegel betrachten zu können, der kaum beschlagen war.
Ihr dunkelblondes Haar war nach einem kürzlichen Friseurtermin momentan wieder kurz geschnitten, nachdem sie es eine Weile hatte wachsen lassen. Es war zerzaust und stand nach allen Seiten ab. Aber das war nicht nur jetzt, unmittelbar nach dem Duschen, sondern in der Regel auch im trockenen Zustand der Fall, sodass sie meistens aussah, als wäre sie in einen heftigen Sturm geraten. Sie hatte ein herzförmiges Gesicht mit hohen, markanten Wangenknochen, dazu grüne, ausdrucksstarke Augen, eine schmale, gerade Nase und einen ihrer Meinung nach etwas zu breiten Mund mit zu dünnen Lippen. Die 35-jährige Kriminalbeamtin war ein Meter zweiundsiebzig groß. Außerdem war sie schlank und machte insgesamt einen sportlichen Eindruck, was vermutlich vor allem daran lag, dass sie möglichst regelmäßig ihre Runden durch den Westpark drehte. Anja musterte sich zunächst mit kritischem Blick, doch dann nickte sie. Alles in allem war sie bis auf ein paar kleinere Mängel mit ihrem Aussehen und ihrer Figur zufrieden.
Anja hängte das feuchte Duschhandtuch über den Handtuchhalter, als sie das Schaben hörte. Sie wirbelte blitzschnell herum und sah mit nachdenklich gerunzelter Stirn und aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen zur Tür, woher der Laut gekommen war.
Was war das?
Es hatte sich angehört, als wäre etwas an der Außenseite des Türblatts entlanggestrichen. Im Grund ein absolut harmloser Laut. Doch hier und jetzt, wo außer Yin und ihr niemand im Haus sein durfte, dennoch hochgradig verdächtig. Vor allem nach den dramatischen Ereignissen in der jüngsten Vergangenheit und in Anbetracht der Tatsache, dass sie schon mehrmals das Zielobjekt diverser Serienkiller und Mörder gewesen war.
Aus diesem Grund tat Anja das Geräusch auch nicht sofort als unbedenklich und ungefährlich ab, wie sie es normalerweise getan hätte, sondern beschloss, auf Nummer sicher zu gehen und vorsichtig zu sein.
Da sie noch immer nackt war, kam sie sich in diesem Moment umso verletzlicher vor. Deshalb zog sie sich eilig ihren Bademantel über und band den Gürtel zu. Dann sah sie sich nach einem Gegenstand um, der halbwegs als Ersatz für eine richtige Waffe taugte und mit dem sie sich gegen einen Angriff verteidigen könnte. Doch es gab nichts, das für eine derartige Aufgabe auch nur halbwegs geeignet war, da sie im Bad nichts aufbewahrte, das sich als provisorische Waffe verwenden ließ. Also musste sie sich auf ihre Kenntnisse der waffenlosen Selbstverteidigung verlassen. Zur Not konnte sie sich nämlich auch waffenlos zur Wehr setzen.
Vermutlich ist es ohnehin nur falscher Alarm.
Der Gedanke beruhigte sie etwas. Und bevor sie es sich anders überlegen konnte und sie der Mut verließ, ging sie auf Zehenspitzen zur Tür und riss diese ruckartig auf. Denn falls dort draußen tatsächlich jemand lauerte, würde sie die Person mit dieser Aktion überrumpeln.
Doch dann war sie es, die vor Überraschung aufschrie.
5
Urplötzlich wurde die Tür vor ihm geöffnet. Doch der Regenmann hatte damit gerechnet, denn der Regen hatte ihn den Bruchteil eines Augenblicks vorher gewarnt. Deshalb reagierte der Regenmann unverzüglich, ohne dabei auch nur eine einzige Sekunde zu zögern.
Die Frau schrie erschrocken. Ihre Augen weiteten sich, als sie ihn sah, denn mit einem nächtlichen Eindringling, der vom Kopf bis zu den Füßen in nasser schwarzer Regenkleidung steckte, hatte sie zweifellos nicht gerechnet.
»Überraschung«, sagte er, während seine linke Hand sich bereits um ihren Hals legte und verhinderte, dass sie ein zweites Mal schrie. Dann begann er zu singen.
»Weine nicht, wenn der Regenmann kommt, dam-dam, dam-dam.«
Nach dieser einen Liedzeile verstummte er wieder. Anschließend verstärkte er den Druck seiner Finger um ihren Hals und hob ihren Körper gleichzeitig ein Stück weit an, sodass ihre nackten Füße den Bodenkontakt verloren und in der Luft baumelten.
Ihre Augen wurden größer, so als wollten sie aus ihren Höhlen rollen, als sie keine Luft mehr bekam. Sie strampelte mit den Füßen, hob die Hände und versuchte vergeblich, den stahlharten Griff um ihren Hals zu lockern.
Der Regenmann lächelte verzückt. Es war alles vollkommen anders als bei seinem ersten Mord und daher neu und aufregend. Seitdem hatte er sich die Szene immer und immer wieder in Erinnerung gerufen und sich daran erfreut. Doch diesmal war es sogar noch besser, denn beim ersten Mal hatte er noch improvisieren müssen. Außerdem war es natürlich um ein Vielfaches besser und erregender, es leibhaftig erleben zu dürfen, als sich nur daran zu erinnern.
Er ging drei Schritte nach vorn, bis er mitten im Badezimmer stand, und trug die heftig strampelnde Frau dabei mühelos vor sich her.
Zeit für Stufe zwei!
Sobald der Regenmann das ersehnte Kommando bekommen hatte, stieß er mit dem Jagdmesser zu. Er glaubte, dass die Frau die Stichwaffe in seiner rechten Hand noch gar nicht bemerkt hatte. Vermutlich ging sie noch immer davon aus, dass die