DER REGENMANN. Eberhard Weidner

DER REGENMANN - Eberhard Weidner


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klopften sie nicht an die Tür, sondern klingelten in der Regel vorn am Gartentürchen.

      Was dann?

      Halbwüchsige, denen es zu langweilig war und die zu übermütig waren? Vielleicht. Ausgelassene Betrunkene auf dem Weg von einer Kneipe zur nächsten? Ihrer Meinung nach vermutlich die einzigen Erwachsenen, die aufgrund ihres Zustands derartig infantile Streiche halbwegs lustig fanden.

      Anja schüttelte den Kopf. Vermutlich würde sie nie erfahren, wer vor wenigen Minuten an ihre Tür geklopft hatte und aus welchem Grund die Person es getan hatte. Aber höchstwahrscheinlich war es nur ein harmloser Streich oder ein Versehen gewesen und damit das Tamtam nicht wert, das sie darum veranstaltete.

      Sie zog sich wieder ins Haus zurück, um sich abzuwenden und die Tür zu schließen. Doch da fiel ihr zum ersten Mal der großformatige braune Umschlag auf, den jemand zum Schutz vor dem Regen in eine Klarsichthülle gesteckt und auf die Fußmatte gelegt hatte.

      Anja erstarrte mitten in der Bewegung, während in ihrem Inneren plötzlich Chaos ausbrach und ihre Gedanken rasten.

      Natürlich musste sie sofort an die Nachrichten denken, die ihr im Fall des Apokalypse-Killers von dessen Hintermann oder Komplizen geschickt worden waren. Auch nach dem Tod des Serienmörders hatte sie noch einen derartigen Umschlag am Grab ihres Vaters gefunden. Darin hatte sich ein Foto befunden, das ihren Vater unmittelbar vor seinem Tod zeigte und das nur der Mörder aufgenommen haben konnte. Erst durch dieses Foto war ihr bewusst geworden, dass ihr Vater keinen Selbstmord begangen hatte, wie jeder jahrzehntelang geglaubt hatte, sondern ermordet worden war.

      Anja starrte noch immer auf den Umschlag zu ihren Füßen, der exakt so aussah wie die Kuverts, die sie regelmäßig nach den Morden des Apokalypse-Killers erhalten hatte. Allerdings hatte das natürlich nicht zwangsläufig zu bedeuten, dass sie vom selben Absender stammten, denn solche Umschläge waren weit verbreitet und es gab sie wie Sand am Meer. Außerdem stand im Gegensatz zu damals diesmal nicht ihr Name darauf. Allerdings gab es auch so keinen Zweifel, für wen der Umschlag bestimmt war, schließlich lag er vor ihrer Tür auf der Fußmatte. Außerdem hatte die Person, die ihn hier abgelegt hatte, an ihre Haustür geklopft, bevor sie wieder spurlos verschwunden war, um Anja dazu zu bringen, die Tür zu öffnen und nachzusehen.

      Während sie über all das nachdachte, war sie blind und taub für ihre Umwelt. Jeder, der ihr etwas hätte antun wollen, hätte diesen Moment ausnutzen können, um sich ihr unbemerkt zu nähern.

      Doch erst als sie die Berührung spürte, wurde sich Anja dieser Gefahr jäh bewusst. Sie sog die Luft ein und zuckte erschrocken zusammen. Doch da war es bereits zu spät, um zu reagieren und sich zu verteidigen.

      8

      Zum Glück war das aber auch gar nicht notwendig, denn es war wieder nur Yin, der ihr linkes Bein streifte, als er an ihr vorbeiging. Er schnüffelte an der Klarsichthülle mit dem Umschlag, verlor aber sofort wieder das Interesse, und sah nach draußen. Es nieselte zwar mittlerweile nur noch, doch der Kater machte dennoch keine Anstalten, das Haus zu verlassen. Vermutlich war es ihm immer noch zu nass. Er maunzte verärgert, drehte sich um und stolzierte davon, wobei er sich im Vorbeigehen erneut kurz an Anjas Bein rieb, bevor er schließlich im Wohnzimmer verschwand.

      Anja, die ihm schweigend hinterhergeschaut hatte, richtete ihren Blick wieder auf den Umschlag. Allmählich spürte sie die Kühle der Nacht auf der bloßen Haut ihrer Beine und fröstelte. Außerdem wurde sie sich darüber bewusst, dass sie im Bademantel, barfuß und mit feuchten Haaren in der offenen Haustür stand. Sie bückte sich daher rasch und ergriff die Klarsichthülle mit den Spitzen ihrer Finger vorsichtig an einer Ecke. Für den Fall, dass Hülle und Umschlag Bestandteile einer offiziellen Ermittlung werden sollten, wollte sie keine Spuren verwischen und so wenige eigene Fingerabdrücke darauf hinterlassen wie möglich.

      Als sie sich wieder aufrichtete, hatte sie, wie schon einmal an diesem Abend, das intensive Gefühl, jemand würde sie heimlich beobachten. Sie erschauderte und sah sich suchend um, konnte jedoch niemanden entdecken. Allerdings gab es in ihrem Blickfeld diverse Möglichkeiten, wo sich jemand vollständig vor ihren Blicken verbergen konnte.

      Sie schloss daher rasch die Tür und schob für alle Fälle die Sicherheitskette in die Schiene. Dann ging sie, nachdem sie den Schirm an seinen Platz zurückgestellt hatte, mit der Klarsichthülle zwischen den spitzen Fingern in die Küche.

      Als Erstes zog sie sich Einweghandschuhe an. Da sie diese stets dann benötigte, wenn sie das Haus oder die Wohnung einer vermissten Person durchsuchte, besaß sie einen Vorrat davon.

      Sie holte ein Gemüsemesser aus der Besteckschublade und öffnete damit den Umschlag, sobald sie ihn aus der feuchten Hülle geholt hatte, die sie zum Trocknen auf ein Küchentuch neben der Spüle legte. Als sie einen ersten vorsichtigen Blick in das Kuvert warf, entdeckte sie darin ein einzelnes ungefaltetes DIN-A4-Blatt. Sie nahm das Papier heraus, legte den Umschlag auf den Tisch und sah sich dann an, worum es sich handelte.

      Soweit sie sehen konnte, war es ein normales weißes Blatt Druckerpapier. Darauf war das Farbfoto einer Frau abgedruckt, die sich zu einer schwarzen Katze hinunterbeugte, um diese zu streicheln. Das Bild war allem Anschein nach heimlich nach Einbruch der Dunkelheit durch die geschlossene Terrassentür aufgenommen worden, denn die Frau und die Katze befanden sich im hellerleuchteten Wohnzimmer eines Hauses.

      Anja musste unwillkürlich daran denken, wie sie vor dem Duschen versucht hatte, Yin zu trösten, als dieser im Wohnzimmer vor der Terrassentür gesessen und missmutig nach draußen in den Regen gestarrt hatte. Deshalb hätte sie die Aufnahme auch leicht für ein Foto von sich und Yin halten können. Allerdings hatte sie sich nicht zu ihm hinuntergebeugt, als sie ihn gestreichelt hatte, sondern war neben ihm in die Hocke gegangen. Und je länger sie das Foto betrachtete, desto mehr Unterschiede zwischen ihr und der abgebildeten Frau einerseits und dem Wohnzimmer auf dem Bild und ihrem eigenen andererseits fand sie.

      Allerdings gab es auch eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Zum einen natürlich die schwarze Katze, die Yin sehr ähnlich sah, auch wenn sie etwas kleiner und zierlicher wirkte. Außerdem hatte die Frau auf dem Foto ebenfalls kurze blonde Haare, auch wenn ihr Haarschnitt ordentlicher wirkte als Anjas stets etwas zerzauste Frisur. Darüber hinaus waren die Haare der anderen Frau leicht gewellt, und ihr Pony war etwas länger.

      Dennoch war die oberflächliche Ähnlichkeit der abgebildeten Person und ihres Haustiers zu Anja und Yin unheimlich und ließ sie frösteln. Vor allem, weil diese Ähnlichkeit nach Anjas Meinung nicht zufällig, sondern beabsichtigt zu sein schien.

      Spielte etwa irgendjemand da draußen ein abartiges Spielchen mit ihr, indem er ihr dieses Foto geschickt hatte.

      Falls ja, dann hatte Anja auch einen konkreten Verdacht, um wen es sich dabei handelte. Und zwar um denselben Mann, der ihren Vater und zahlreiche andere Menschen auf dem Gewissen hatte. Und bei dem es sich, wenn sie nicht komplett auf dem Holzweg war, um ihren Onkel handelte.

      Erst als sie sich das Foto so genau angesehen hatte, als wollte sie sich jedes Detail einprägen, widmete sie sich den Dingen, die sich darüber hinaus auf dem Blatt befanden.

      Über dem Foto stand in großen schwarzen Druckbuchstaben ein einzelnes Wort:

      VERMISST!

      Und unter der Aufnahme standen der Name CARINA ARENDT und eine Adresse.

      Anja kannte die genannte Straße. Sie traf in weniger als dreihundert Metern Entfernung auf die Straße, in der sie wohnte, und grenzte ebenfalls an den Waldfriedhof. Die auf dem DIN-A4-Blatt abgedruckte Adresse konnte daher höchstens einen Kilometer und damit eine Viertelstunde entfernt sein, wenn man gemütlich zu Fuß ging. Mit dem Auto war man vermutlich sogar in zwei Minuten dort.

      Sie überlegte, was sie jetzt tun sollte.

      Allerdings musste sie nicht lange darüber nachdenken. Auf keinen Fall wollte und konnte sie den Inhalt des Umschlags ignorieren. Er war gewiss nicht ohne Grund auf ihre Fußmatte gelegt worden. Und auch die Ähnlichkeit zwischen der Frau auf dem Foto und ihr dürfte alles andere als ein Zufall sein. Außerdem elektrisierte


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