Aus Giessen und dessen Umgebung alten Tagen. Erik Schreiber
Herausgeber
Erik Schreiber
Historisches Deutschland
e-book 105
Aus Giessen und dessen Umgebung alten Tagen
© Saphir im Stahl 01.10.2021
Verlag Erik Schreiber
An der Laut 14
64404 Bickenbach
Titelbild: Simon Faulhaber
Lektorat: Peter Heller
Vertrieb: Neobooks
Herausgeber
Erik Schreiber
Historisches Deutschland
Giessen
und
seine Umgebungen,
geschildert
von
Eduard Duller.
Ein Wegweiser
für
Einheimische und Fremde.
Mit drei Stahlstichen.
Giessen, 1851.
J. Ricker'sche Buchhandlung.
Historisches Deutschland
Saphir im Stahl
Einleitung
Wenn ihr im Winter, des Abends einsam am Kamine sitzend, während euch der Frost Eisblüten an die Fensterscheiben malt, eines eurer Lieblingsbücher aufschlagt, so findet ihr wohl zuweilen eine verblichene Blume oder ein dürres Laub, wie alte Gefangene, zwischen den Blättern. Ihr hattet sie vielleicht längst vergessen, und nun, da ihr sie plötzlich wiedersehet und aus ihrer Haft erlöset, dünkt euch: sie sprächen ganz leise und doch so bekannt zu euch. Da wird das zarte Geäder des Laubes zu Hieroglyphen eurer eigenen Vergangenheit, und ihr leset so manchen schönen Augenblick, den ihr mit frischen Sinnen genossen habet, als die Blume noch in der Muttererde wurzelte, als das Laub noch saftig am Zweige hing, der sich gastlich über euch wölbte. Ihr pflücktet die Blume, ihr brächet das Laub, als ihr von einem lieben Orte oder von lieben Freunden Abschied nähmet; ihr brachtet sie heim als einstige Merkzeichen der Erinnerung. Und jene Zeit, jener Ort, — nun so fern, - wie nahe werden sie euch plötzlich wieder! Wie eigen traulich umfriedet euch jetzt der magische Kreis dieser nahen Ferne, dieser gegenwärtigen Vergangenheit! Der Zufall, wie er euch vielleicht einst in der Wirklichkeit verstimmte, hat darin nicht Raum; ihr beherrschet euer ideales Reich wie ein unumschränkter Monarch, und bunte Reihen gefälliger Gedanken, welche euch umgaukeln, weben über jede düstre Ecke gar schnell einen leichten Teppich voll goldschimmernder Arabesken.
Von solcher Art nun wie jenes Laub und jene Blume sind auch die folgenden Blätter, nämlich anspruchslose Merkzeichen der Erinnerung an reizende Landschaften, welche man einst, — das Herz voll frischer Jugendlust, die Scheitel von tausend Hoffnungsrosen umduftet, — Arm in Arm mit dem Jugendgenossen oder Gastfreunde durchwanderte, an freie Bergesgipfel, auf denen man die ragenden Burgen, wie greise Hochwächter der Geschichte und Sage, weithin überschaute.
Wie durch's sonnige Thal sich der Strom in gefälliger Krümmung
Windet, und, wenn er dem Blick eben, der neckende, schwand,
Hinter dem Walde hervor dort plötzlich wieder dich grüsset,
Gleich als lenkte den Lauf Liebe ihm traulich zurück;
Also umschlinget dich auch der Erinnerung goldener Faden,
Den zum magischen Kreis leise die Liebe gewebt.
Giessen.
Seht, welch ein eigentümlicher Zauber ist über die Landschaft ausgegossen, deren Mittelgrund die Stadt Giessen einnimmt, — der Zauber idyllischer Ruhe, unter deren lindem Odem sich das Herz so wohl und heiter fühlt, während das Auge mit Befriedigung auf der Schönheitslinie der Bergeshöhen ruht, welche den Horizont schliessen! Es war wohlgethan, dass ich den Spuren des Künstlers nachging, um einen Gesammtüberblick der Stadt zu gewinnen; — man geht nie irre, wenn man das Auge des Künstlers zum ästhetischen Kompass nimmt. Die Spur leitete mich in den Buschischen Garten vor der Stadt. Hier bin ich denn und kann mich über meinen Führer nicht beklagen. In der That: wenige Standpunkte in Giessens naher Umgebung eignen sich wie gerade der vom buschischen Garten zu einer so vollkommenen Auflassung des Gesammtüberblickes der Stadt und der Landschaft zugleich, wobei die eine durch die andere gleichsam ergänzt wird. Da wechseln im Vordergrund die zierlichen Baumgruppen, bunten Blumenbeete und dunklen Lauben des geschmackvoll angelegten Gartens mit Gruppen fröhlicher Menschen, welche die nahe Stadt verlassen haben und sich nach des Tages Lasten am Anblick der lieblichen Natur erlaben, welche sie umgiebt. Und schweift mein Auge über diese Menschen und jene Blumen hinweg, so folgt es dem hellen Streifen der Strasse, der sich scharf hervorhebt aus dem saftigen Grün des Wiesengrundes, bis hin zur Stadt, welche sich mir hier fast in ihrer ganzen Breite darstellt. Ein grüner Laubgürtel umschmiegt sie. Ueber ihre Dächer ragt der alte Thurm der Stadtkirche empor. Am äussersten Ende links (von meinem Standpunkt), wo sich die Heerstrasse von Frankfurt allmälig niedersenket, seh‘ ich auf dem Seltzerberg den spitzen Thurm der neuen katholischen Kirche und das jetzige Universitätsgebäude; es nimmt sich ja fast wie ein hohes stattliches Herrenhaus mit Thürmen und Zinnen aus; — am äussersten Ende rechts fesselt der alte Kanzleithurm mit seinem vieleckigen Oberbau meine Blicke. Im Hintergrunde, zu beiden Seiten des Thurmes der Stadtkirche erheben sich zwei Bergesgipfel — Vetzberg (links) und Gleiberg (rechts) —, beide — Burgruinen als Mauerkronen tragend; der breite Rücken des Dünsberges überwölbt sie im sanften Bogen. Rechts endlich schliesst sich an den Gleiberg die kahle Kuppe des Wettenbergs, dessen eigenthümlich abgestufte Vorberge ich von hier aus, wo einer den andern deckt, nur durch ein gutes Fernrohr erkennen kann. So vollendet sich das Landschaftsbild, anmuthig im Ganzen und reich an reizenden Einzelheiten, von deren einer der Blick zur andern eilt, um zur ersten wiederzukehren und mit Behagen darauf zu verweilen.
Das also ist die Musenstadt, von der ich in aller Weise so Vieles hörte, bevor ich sie endlich- sah! Ich kenne so manchen ernsten Mann, der über Vielem, was er vom Leben lernte, das Lächeln verlernt zu haben scheint, — auf dessen Stirne in Faltenschrift eine lange Geschichte von holden Hoffnungsblüten, aus denen keine Frucht geworden ist, geschrieben steht. Auch so manchen Greis kenne ich, der, kinderlos in seiner einsamen Stube sitzend, sich dennoch des jungen frischen Lebens draussen in der Welt vor seinen Fenstern freut. Zuweilen kam das Gespräch, wenn ich den Einen oder den Andern sah, auf Giessen, wo sie studirt hatten. Wie wurde da dem vielgeprüften, ernsten Geschäftsmanne, wenn er von Giessen sprach, das trübe Auge viel heller, als wenn er irgend eine angenehme Neuigkeit erfahren hätte; die Falten auf seiner Stirne glätteten sich und ein ungewohntes Lächeln verschönerte und veredelte die starren Züge des bleichen Angesichte. Denn es war nicht jenes Lächeln, das Aushängeschild eines ironischen Mitleids gegen sich selbst, womit man in reiferen Jahren Jugendthorheiten gleichsam zu entschuldigen sucht; es war das Lächeln der Pietät, das Lächeln einer Versöhnung, welche Vergangenheit und Gegenwart tief im Grunde der Seele feiern. Und sprach der Greis mit dem Silberhaar, dem die schönsten Blumen auf den Gräbern wachsen, sprach er von Giessen, so sah' ich wohl, wie eine Thräne an seinen Wimpern hing, eine Thräne der stillseligen Wehmuth, wie sie oft nach einem halben Jahrhundert noch aus dem unversiegten Bronnen der ersten Liebe zu Tage kommt. — Und es ist auch eine erste Liebe, die der Jüngling auf der Hochschule anknüpft und die wie ein leuchtender Faden in allen dunklen Irrgängen des ganzen Lebens ihn leiten soll. Mit dem vollen Feuer einer gesunden, unverdorbenen Seele tritt er aus dem stillen, engumfriedeten Familienkreise des Vaterhauses, welcher die brausende Gährung des jungen Herzens noch weniger fassen kann, als dieses selbst sich versteht, — kommt er aus der Schule, wo der fruchtbare Keim gepflegt wurde, welcher nun die klemme Hülle zu zersprengen, Wurzel zu fassen und sich in hundert Trieben, Aesten und Blüten am Licht der Sonne rasch auszuleben