Aus Giessen und dessen Umgebung alten Tagen. Erik Schreiber

Aus Giessen und dessen Umgebung alten Tagen - Erik Schreiber


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Im Gegentheil: dieser traurige Schmarotzer, dieser Spassmacher nach der Leiche findet hier allzuviel Rührigkeit, als dass es ihm gefallen könnte. Allein, — wer kann uns denn dafür gutstehen, dass er sich hier nicht — aller möglichen polizeilichen Aufsicht zum Trotz — dennoch mit der Zeit einschmuggelte, wenn das naturgemässe Bedürfniss des hiesigen industriellen Bürgerthums: gleichen Schritt mit der Gegenwart zu halten, nicht befriedigt werden sollte? Giessen ist eine von den lebhaften Schlagadern der Provinz Oberhessen, deren Blutcirkulation nicht ins Stocken gerathen darf, ohne dass der ganze Organismus darunter leidet. Und unsre Zeit folgt bei solchen Fällen dem alten Grundsatz des Hippokrates: „Was die Arznei nicht heilt, heilt das Eisen.“ Die Arznei ist die Schiffahrt, die Eisenbahnen sind das Eisen. Es ist, um wieder auf Giessen zurückzukommen, ganz unberechenbar, welche Vortheile Giessen gewänne, wenn es durch eine Eisenbahn mit dem Rhein einerseits und mit dem Norden anderseits als natürlicher Mittelpunkt in nähere Berührung gebracht würde. Ueberhaupt, wer hat die Vortheile der Eisenbahnen bis jetzt noch völlig richtig berechnet? Man rechnet meistens gar zu ausschliesslich nach Zahlen, ohne auch jenes Kapital in Anschlag zu bringen, dessen Zinsen, statt Jahren, oft blos Augenblicke bedürfen, um selbst zum Kapital zu werden und wieder Zinsen zu tragen. Doch, wie kam ich denn nur auf einmal mitten in diese Gedankenarabesken, wo sich eine Ranke aus der anderen entspinnt und neue Triebe ansetzt? Halt, ich vermuthe es. Mir war's, als hätt‘ ich dort durch die Zweige der Ufergebüsche eine Jungfrau in reizender Blässe gesehen; sie tauchte aus den Wellen empor und schlug einen grünen nassen Schleier zurück; einen blauen Blumenkelch hielt sie in der Hand, und aus den goldnen Staubfäden wuchsen die Arabesken hervor; und ein leises Klingen zog drüber hin, ein melodisches Rauschen, wie ein Lied von ferner Zeit. Gewiss: das war die schöne Lahnnixe. Aber war Vergangenheit oder Zukunft der Inhalt des Liedes? O lasst mich lauschen und alles vergessen, was rings um mich ist.

      So sass ich lange einsam auf einer Bank (denn mein Freund, der mich auf den Seltzerberg begleitet, war in die Stadt zurückgekehrt) und horchte; aber das leise Klingen wollte sich nicht wieder vernehmen lassen.

      Und mittlerweile ist es Abend geworden, die Dämmerung webt ihre Schleier über das Landschaftsbild. Nur wenige Wandrer sind noch auf den Strassen und Feldwegen, der Landmann, der vom Acker ins Dorf kehret, der Landkrämer, der seinen bescheidnen Einkauf in der Stadt besorgt hat; — bald schwinden die dunklen Gestalten in den Schatten. Auch die Formen der Gebüsche am Ufer, welche noch vor kurzem so scharf hervorgetreten in der letzten Helle des Horizonts, verschwimmen jetzt in breite und undeutliche Massen. Da tritt der Mond aus den schweren Wolkenschichten hervor und grell beleuchtet sein bläulicher Schein den alten Thurm auf dem Gleiberg; in der gespenstigen Beleuchtung scheint mir dieser jetzt näher als am Tage. Schaurig still ist's rings um mich her; nur der gedämpfte Schall eines Studentengesanges dringt aus der Stadt herüber. Bald verstummet auch er und lauter wird jetzt das Rauschen der Wasser. Gewiss: das ist die Nixe hinter den Büschen. Sie hat jede Hülle abgelegt und wiegt sich auf den Wassern im Mondenstrahl und erzält von Geschicken alter Zeiten, die sie gesehen. Ich horche, was sie verkündet.

      Wie die magischen Töne leise erklingen, verändert sich vor meinen Blicken das Bild der ganzen Landschaft. Ich sehe die Wasser frei und wild dahin rauschen, noch trägt der Strom kein Brückenjoch. Dichter Urwald bedecket die Höhen und die Ebene an beiden Ufern; unter den alten heiligen Bäumen aber streifen kühne Jäger umher, mit durchdringenden Blicken aus blauen Augen. Hier wandeln Jünglinge, ungeduldig nach dem ersten Feindesleben; denn schon tragen sie den Bart und lange wallt ihr Haar und die Sitte gebeut, ihnen Haupthaar und Bart wachsen zu lassen, bis sie einen Feind erlegt. Die Männer dort tragen eiserne Ringe, wie schmäliche Fesseln; aber sie haben sich diese selbst angethan, bis sie durch Feindesmord sich davon lösen. Hier schwächt das Alter die wilde Tapferkeit und die Freiheitslust nicht, die dem stämmigen Volk eigen sind, das den Frieden hasset, das das Feld nicht bauen mag, und das, hat es keinen Feind, mit dem gewaltigen Hochwild ringet. Es sind die Katten, die hier hausen. Hoch und schön, stolz und züchtig tritt die Jungfrau mit dem langen Goldhaar in der kriegerischen Männer Mitte; die Mutter hüllt ihr neugeborenes Kind nicht in warme weiche Decken, sie trägt es hinaus an die kalte Fluth und taucht es hinein und weiht ihm den Leib zu Kraft, das Herz zu Muth und Freiheitslust.

      Horch: römischer Heeresruf schallt durch den Urwald. Nun kann sich die unzähmbare Tapferkeit mit erprobter Kriegskunst messen; nun gibt es Ringe zu lösen, nun Kinn und Stirn und Nacken in Feindesblut zu enthüllen. Denn die Freiheit der Katten ist in Gefahr; und schon hat der Römer den Pfahlgraben als einen Grenzwall seiner Herrschaft gezogen. Der Kampf entbrennt und für ferne Zeiten bleiben seine Spuren auf den Wahlplätzen; von Geschlecht zu Geschlecht geh'n die Namen Leichenau, Römerloch, Kattenfeld (jetzt Katzenfeld) über. — Es ist nicht der einzige Kampf zwischen Katten und Römern; viele folgen und die Römer lernen der Katten Tapferkeit kennen. Aber auch gegen andere deutsche Stämme zieht das gewaltige Volk in den Streit aus; Siege und Verluste wechseln; und endlich schmilzt der Name der Katten in dem grossen Bund der Stämme ein, in dem gefürchteten Gesammtnamen: Franken.

      Wie schwere Gewitterwolken, vom Sturm gepeitscht, am Himmel sich jagen, so auf Erden die Geschicke der Völker. Eine sternlose Nacht hegt lange über diesem Boden, und wie die dichten Nebel sich wieder erheben und zerstreuen, tritt (vom siebenten Jahrhundert an) allmählig der Namen Hessen hell hervor. Ein grosses Frankenreich hat sich aufgethan, von Königen beherrscht. Die deutschen Lande sind in Gaue getheilt, denen Grafen vorstehen, die Unterabtheilungen der Gaue heissen Centen und Marken. Die hiesige Gegend wird theils dem Niederlahngau, theils der Wetterau zugerechnet und christliche Glaubensboten durchziehen sie. Welch ein verändertes Bild der Landschaft! Das Christenthum hat sie gelichtet: es hat die uralten heiligen Eichen, unter denen die Väter ihren einfachen Naturgottesdienst hielten, gefallt. Auf der Höhe, die sich zur Fuhrt der Lahn herniederneigt, steht jetzt ein Dörflein, genannt Selters und ein Kirchlein, St. Peter zu Ehren geweiht, am jenseitigen rechten Ufer ein anderes Dörflein Croppach. Die Herren der Gegend sind aus dem Konradinisch- salischen Geschlecht; in kirchlicher Hinsicht gehört sie zur Trierschen Diözese, und zwar zum Archidiakonat Dietkirchen, zum Dekanat Wetzlar. Mittlerweile hat sich das Lehenswesen entwickelt, und mächtige Geschlechter breiten sich aus, und stattliche Burgen erheben sich auf den Bergesgipfeln zu Schutz und Trutz. Schon wächst dort auf dem Gleiberg aus Basaltquadern der Thurm heran. Von seinen Zinnen überschauen zwei Grafen aus Lothringen das schöne Land, das ihr Eigen ist; eine Erbtochter des fränkischen Herzogshauses brachte es an jenes Geschlecht. Und herrlich ist dieser Stamm der Grafen von Gleiberg; stolz stehen sie unter den Grossen des Reiches. Eine Tochter des Geschlechts, die Gräfin Klemenzia, stiftet in der Nähe das Kloster Schiffenberg, und nun schwindet immer mehr das Dunkel der Wälder und statt ihrer kommt immer mehr neuangerodetes Land hell an's Licht der Sonne. Noch heisst die Gegend blos das „Wiesecker Thal“, vom Wieseckflüsschen, das es durchrinnt. Da erbauet, Graf Wilhelm von Gleiberg (gegen Ende des 12ten Jahrhunderts) diesseits der Lahn eine Burg zur Vorhut für die neuangelegten Dörfer und die Burg heisst fortan „zu den Glessen“. Seine Erbtochter Salome nennt sich (1197) „Gräfin von Giessen.“ Durch ihre Vermälung mit Hugo von Eberstein erbt ihre Tochter Mathilde die Herrschaft Giessen als einen Theil der Grafschaft Gleiberg, und Mathildens Sohn von dem Pfalzgrafen Rudolf von Tübingen so wie ihr Enkel sind fortwährend Herrn von Giessen. Der letztere, Ulrich Pfalzgraf von Tübingen, verkauft 1265 die Herrschaft Giessen an Heinrich das Kind, Landgrafen von Hessen, einen Enkel der heiligen Elisabeth und Sohn des Herzogs Heinrich II. von Brabant. Schon 15 Jahre vor diesem Verkauf kommt Giessen urkundlich als Stadt vor.

      Zwar kann sich die Burg „zu den Giessen“ an Umfang mit jener stattlichen älteren nicht messen, welche stolz und frei vom hohen Felsengipfel auf sie herabblickt. Aber so tief die Burg zu den Giessen in der Ebene liegt, — sie ist doch fest und sicher durch die Wasser; sie ist der Liebling der Nixe, die ihre Arme um sie breitet, um sie vor Gewalt zu schützen, und, käme ein Feind, so erhöbe sich die Nixe zürnend und riefe die Wasser der Ebene herbei, die ihr gehorchen. Sieh, wie die ausgesteckten Fähnlein auf den Zinnen wallen! Da kommt der Adel von seinen offnen Sitzen in der Nachbarschaft herbeigeritten, und bauet sich an neben der Burg und ziehet fröhlich ein, des guten Schutzes sich freuend, den er hier findet. Da wird so mancher Freie und Adelige ein Burgmann zu Giessen, und die Burgmänner richten mit Gottes Hilfe den Burgfrieden unter sich auf, zu ihrer Aller Ordnung, Gesetz, Heil und Ansehn weit und breit. Es sind bedeutende Dynasten unter diesen, so


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