Blaue Diamanten. Irene Dorfner
„Bleib ruhig! Wenn du schreist, geschieht ein Unglück,“ sagte der Mann, der sich bei ihr untergehakt hatte und sie von der Bushaltestelle ruppig mit sich zog.
Jenny Löffler geriet in Panik. Das eben geschah so schnell, dass sie nicht reagieren konnte. Trotz der Warnung versuchte sie zu schreien, aber die Worte blieben in ihrer Kehle stecken. Was wollte der Mann von ihr? Hilflos blickte sie sich um und suchte nach irgendjemandem, der ihr helfen und sie aus der Situation befreien würde. Wie jeden Abend stiegen mehrere Fahrgäste mit ihr aus dem Bus der Linie 12. Die meisten davon kannte sie seit Jahren, allerdings nur vom Sehen. Fiel denn keinem auf, dass ein Fremder sie belästigte? Niemand nahm Notiz von ihr und dem Mann, der sie unerbittlich mit sich zog. Die Gegend wurde einsamer, es waren nur noch wenige Menschen auf der Straße. Wo befanden sie sich? Sie hatte nicht auf den Weg geachtet und mahnte sich, sich zu konzentrieren. Langsam fing sie sich und sammelte all ihre Kräfte. Sie waren in der Silcherstraße, die dünn besiedelt war. Hier lebten nur Reiche, die nur selten auf der Straße zu sehen waren. Hier auf Hilfe zu hoffen, schien aussichtslos. Schrei endlich! Sie sammelte ihren Mut zusammen und holte tief Luft. Gerade als sie schreien wollte, drohte ihr der Mann erneut:
„Ein Mucks und es trifft nicht nur dich, sondern auch deine Kinder. Es wäre sehr schade um Hannah und Oskar,“ fügte er süffisant hinzu.
Die Namen ihrer Kinder aus dem Mund dieses Mannes versetzten ihr einen Schlag in den Magen. Er kannte ihre Kinder und wusste sogar ihre Namen! Die Drohung wirkte. Augenblicklich unterbrach Jenny ihr Vorhaben, so laut zu schreien, dass die ganze Nachbarschaft auf sie aufmerksam werden musste. Ihre Kinder! Was hatte der Mann mit ihnen gemacht? Sie hatte jetzt keine Angst mehr um sich selbst, sondern nur um ihre beiden Kleinen. Hannah und Oskar waren erst 8 und 10 Jahre alt. Bis 16.30 Uhr waren sie in der Schule und wurden dort beaufsichtigt. Natürlich hätte sie sie gerne bis 18.00 Uhr in der erweiterten Aufsichtsgruppe untergebracht, aber diese war rappelvoll und die Warteliste endlos lang. Jenny war jeden Abend um 17.50 Uhr zuhause und bis dahin waren ihre Kinder auf sich allein gestellt. Seit zwei Jahren lief das ohne Probleme, obwohl sie immer ein schlechtes Gewissen hatte. Die beiden mussten alleine nach Hause gehen und waren dann über eine Stunde auf sich allein gestellt. Anfangs hatte sie sich die schlimmsten Horrorszenarien vorgestellt, was während dieser Zeit alles passieren könnte. Sie musste ihre beiden allein lassen, was blieb ihr anderes übrig? Sie hatte keine andere Wahl, einen Babysitter konnte sie nicht bezahlen, finanziell konnte sie sich keine großen Sprünge leisten. Der Erzeuger der Kinder hatte sich vor über zwei Jahren aus dem Staub gemacht, um sich auf irgendeiner Insel im Pazifik zu verwirklichen. Dieses selbstgefällige Lächeln, mit dem Klaus ihr seine Pläne mitteilte, sah sie immer wieder vor Augen. Sie konnte nicht glauben, dass er auch noch von ihr erwartete, dass sie sich für ihn freut. Dieses egoistische Arschloch hatte sie einmal geliebt. Natürlich zahlte er keinen Unterhalt und sie war nach Klaus‘ Verschwinden auf die Hilfe des Staates angewiesen. Das war ihr nicht nur äußerst peinlich, sondern brachte sie in finanzielle Not. Es fehlte an allen Ecken und Enden. Nach fünf Monaten der Verzweiflung und schrecklichsten Existenz-ängsten bekam sie einen Job in einem Unternehmen in Holzkirchen, die Halbleiter für die Elektroindustrie herstellten. Die Arbeit war stumpfsinnig, wurde aber anständig bezahlt. Sie hatte studiert. Kurz vor ihrem Abschluss wurde sie schwanger und ließ sich von Klaus dazu überreden, das Studium zu schmeißen und sich um das Kind und den Haushalt zu kümmern. Er sprach immer von einem warmen, behüteten Nest. Und ja, genau das wollte sie für ihre kleine Familie. Was war sie doch damals für eine gutgläubige, dumme Gans gewesen. Das war jetzt alles nicht wichtig. Was war mit Hannah und Oskar?
„Was wollen Sie von mir? Geld? Nehmen Sie alles, was ich habe.“ Sie hielt ihm ihre Handtasche hin, aber der Mann lächelte nur verächtlich.
„Deine paar Kröten brauche ich nicht. In wenigen Minuten wirst du erfahren, was ich von dir will.“
Ein Perverser! Ein Vergewaltiger! Abermals stieg Panik in ihr hoch. Bisher hatte sie davon nur gelesen, und jetzt steckte sie selbst in einer solchen Situation. Warum gerade sie? Plötzlich zog der Mann sie hinter einen Baum. Jenny sah sich um. Sie kannte die Gegend sehr gut, sie war oft mit ihren Kindern hier gewesen, als sie noch sehr klein waren und ihre Welt noch in Ordnung war. Die kleine Grünoase lag am Rand des idyllischen Wolfratshausens. Hierher war sie vor elf Jahren mit Klaus von München gezogen und hatte mit ihm eine geräumige, bezahlbare Wohnung in einem Mehrfamilienhaus gemütlich eingerichtet. Obwohl sie in München geboren und aufgewachsen war und die Vorzüge einer Großstadt genoss, gefiel ihr Wolfratshausen sofort. Hier wollte sie den Rest ihres Lebens verbringen – zusammen mit Klaus. Sie wurde wieder schwanger und bekam Oskar, die Familie war komplett und sie war glücklich. Alles lief prima und sie lebten das Leben einer Bilderbuchfamilie, auf die viele neidisch waren. Die Kinder waren gesund, ihr Mann hatte einen gutbezahlten Job. Sie hatten sogar eine Maklerin mit der Suche nach einem kleinen Häuschen beauftragt, das sie sich kaufen wollten und von dem sie schon lange träumten. Alles hätte so schön sein können, wenn Klaus nicht von einem auf den anderen Tag durchgeknallt wäre und alles hingeschmissen hätte, um ein neues Leben zu beginnen und nochmal von vorn anzufangen. Wie oft dachte sie in den letzten zwei Jahren ähnlich? Wie oft war sie am Ende und wäre am liebsten davongelaufen? Aber das ging nicht, sie musste sich um ihre Kinder kümmern, die auf sie angewiesen waren. Sie musste stark sein, auch in der jetzigen Situation. Sie wurde ruhig. Ihr war klar, dass sie alles ertragen und über sich ergehen lassen würde, um lebend davonzukommen. Gab es doch noch die Möglichkeit, sich aus den Fängen des Mannes zu befreien? Vielleicht fand sie hier die ersehnte Hilfe? Sie sah sich um. Hier gab es nichts, außer einem Spielplatz und Grünflächen, die von den Einheimischen sehr gerne aufgesucht wurden. Aber um diese Zeit Ende Februar war es schon lange dunkel und es war nichts mehr los. Wo waren die vielen Hundebesitzer, wenn man sie brauchte?
Jenny lehnte mit dem Rücken am Baum, der Mann stand direkt vor ihr. Sie konnte seinen Atem spüren und roch das Pfefferminzaroma seines Kaugummis.
„Hör mir gut zu,“ sagte der Mann ruhig. Trotzdem wirkte jedes seiner Worte bedrohlich. „Du fährst täglich dieselbe Strecke mit dem Bus und daran wird sich auch in den nächsten Wochen nichts ändern. Du nimmst keinen Urlaub und bist auch nicht krank. Haben wir uns verstanden?“
Was faselt der Mann da? Es ging nicht um ihren Körper oder um Geld? Um was dann? Um ihren Arbeitsweg? Sie bekam das Gefühl, es mit einem Irren zu tun zu haben.
„Du wirst für mich einen Kurierdienst übernehmen. Nichts Großartiges. Du bekommst in den nächsten Wochen an der Haltestelle bei deiner Arbeitsstelle in Holzkirchen etwas zugesteckt, das du dann an deiner Haltestelle in Wolfratshausen in den Papierkorb wirfst. Das ist alles, mehr verlange ich nicht.“
Jenny war irritiert und starrte den Mann an.
„Was soll ich…?“
„Du sollst zuhören! Du kümmerst dich nicht um den Inhalt des Umschlages und verhältst dich so wie immer. Zu niemandem ein Wort. Das alles dauert nur wenige Wochen und ist schnell vorbei. Wenn du keine Probleme machst, geschieht niemandem etwas. Zur Belohnung bekommst du sogar einen kleinen Obolus. Wenn ich zufrieden bin, kann ich sehr großzügig sein. Solltest du aber auf die Idee kommen, Hilfe zu holen oder gar zur Polizei zu gehen, kann ich für nichts garantieren.“
Der große, kräftige, etwa 45-jährige Mann mit bayrischem Dialekt grinste. Er sah der Frau an, dass sie verstanden hatte. Sie wurde für den Job nicht zufällig ausgewählt. Sie brauchten für ihren Plan B zuverlässige Personen, die die Ware transportierten. Jenny Löffler war ideal für den Job. Sie war klug, ging wegen ihres durchschnittlichen Aussehens in der Menge unter und hatte ständig Geldprobleme. Dazu kamen die beiden Kinder, um die sie sich als alleinerziehende Mutter zu kümmern hatte; die beiden gaben ein perfektes Druckmittel ab.
„Was ist mit meinen Kindern?“
„Keine Sorge, denen geht es gut. Aber nur, wenn du dich an die Abmachung hältst.“
„Wie erkenne ich Ihren Komplizen?“
„Er wird auf dich zukommen. Und jetzt mach, dass du wegkommst. Hannah und Oskar warten.“
Sie sah dem Mann im Schein der Straßenlampe hinterher. Sie war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Ihre Knie