Zahltag. Irene Dorfner
auf die Bremse und sah fassungslos zu, wie der Wagen durch die Luft flog und sich dann mehrfach überschlug. Ihr wurde schlecht und sie begann zu zittern. Noch niemals zuvor hatte sie einen Verkehrsunfall so nahe miterlebt. Was sollte sie jetzt tun? Nachdem sie die Warnblinkanlage eingeschaltet hatte, stieg sie aus und sah sich um. Außer ihr war weit und breit niemand zu sehen. Dann rannte sie zu dem Wagen, der an der Böschung liegengeblieben war. Mit aller Kraft versuchte sie, die Tür zu öffnen, aber es gelang ihr nicht. Dann stand plötzlich ein Mann an ihrer Seite und half ihr. Wo kam der auf einmal her? Gemeinsam schafften sie es, die Wagentür zu öffnen. Der Fahrer hing kopfüber im Sicherheitsgurt und rührte sich nicht.
„Ich schneid ihn los,“ sagte der Mann. Carmen verstand kein Wort und nickte nur.
Es roch nach Benzin.
„Schnell!“, rief sie hektisch, als sie begriff, was der Benzingeruch zu bedeuten hatte. Sie half mit all ihrer Kraft mit, den Fahrer aus dem Wagen zu ziehen. Ein weiterer Helfer kam hinzu. Irgendwie gelang es den dreien, den bewusstlosen Fahrer in Sicherheit zu bringen. Dann gab es eine ohrenbetäubende Explosion. Der Schein war grell und blendete alle. Der Boden bebte.
Für einen Moment vernahm Carmen nichts mehr, sondern sah nur in den Schein des Feuers, der alles um sie herum erhellte. Sie konnte nicht fassen, was passierte. War das real oder träumte sie? Dann hörte sie Sirenen. Es dauerte nicht lange, bis sich um sie herum eine Hektik verbreitete, die sie nur langsam begriff.
Carmen und die beiden Männer saßen an einem der Rettungswagen und sahen zu, wie der Verletzte von den Rettungskräften versorgt wurde. Würde er es schaffen? Hatten sie ihn retten können? Dann kam die Polizei und sie beantwortete deren Fragen. Während Carmen sprach, wurde sie sich der Gefahr bewusst, in die sie sich begeben hatte. Sie hätte verdammt nochmal sterben können! War sie zu übermütig gewesen? Die beiden anderen Helfer und die Polizei lobten sie wegen ihres Mutes, einige klopften ihr anerkennend auf die Schulter. Carmen konnte nicht glauben, was sie sich eben getraut hatte, sie war doch sonst nicht so mutig. Sie schilderte dem Polizisten immer wieder, wie es aus ihrer Sicht zu dem Unfall kam, obwohl sie die Ursache immer noch nicht begriff.
„Machen Sie sich darüber keine Sorgen, das finden wir heraus,“ nickte ihr der in ihren Augen viel zu junge Polizist aufmunternd zu. Wie hieß der Mann eigentlich? Er hatte sich vorgestellt, aber sie hatte nicht darauf geachtet. War das überhaupt wichtig?
Der Polizist hieß Walter Schuster und war sehr viel älter, als er aussah, nämlich 34 Jahre alt. Er sah ihr an, dass sie geschockt war, und bat den Notarzt, sich um sie zu kümmern, was Carmen klaglos über sich ergehen ließ. Nachdem sie ein Beruhigungsmittel bekam, nahm sie die Situation um sich herum immer deutlicher wahr. Der Geräuschpegel war laut, viele Menschen riefen durcheinander. Die B12 war komplett gesperrt. Rettungswagen und Fahrzeuge verschiedener Art standen direkt in ihrem Blickfeld, dahinter hatten sich in beiden Richtungen Staus gebildet. Carmen wurde bewusst, dass das kein schlechter Traum war, das war knallharte, schonungslose Realität. Ihr wurde schlecht und sie musste sich noch im Rettungswagen übergeben.
Die Gestalt auf der Brücke stand sehr lange reglos da und beobachtete die Szenerie. Es mehrten sich die Schaulustigen, die alle trotz der unchristlichen Zeit aus ihren Löcher krochen. Es war höchste Zeit, zu gehen.
Die Rettungskräfte waren weg, nur noch die Pressemeute und die Schaulustigen ließen sich nicht vertreiben, die nicht davor zurückschreckten, die Polizeiermittlungen immer wieder zu behindern. Eine Fahrspur wurde für den Verkehr wieder freigegeben, was aber immer noch zu einer enormen Verkehrsbehinderung führte.
Es war schon lange hell, als sich Walter Schuster und die Kollegen darüber einig waren, dass das kein normaler Verkehrsunfall war.
„Wir brauchen die Kriminalpolizei,“ entschied Schuster. „Das war kein Unfall, das war Absicht.“ Mit einem flauen Gefühl im Magen rief er bei der Mühldorfer Kriminalpolizei an und wurde direkt mit dem Leiter der Kriminalpolizei Rudolf Krohmer verbunden. Schuster berichtete nicht nur von dem schrecklichen Vorfall und seiner Vermutung bezüglich einer Absichtstat, sondern auch über die Meldungen der letzten Monate.
„Seit Anfang September mehren sich Anzeigen, dass Gegenstände von Brücken auf die Fahrbahn geworfen wurden,“ sagte Schuster.
„Wie bitte?“, schrie Krohmer. „Wieso weiß ich nichts davon?“
„Unser Chef wollte die Sache nicht an die große Glocke hängen, wir haben im Hintergrund ermittelt. Schenk ging von einem Streich Jugendlicher aus, da die Gegenstände keine große Gefahr darstellten. Es handelte sich um kleine Kürbisse, Äpfel und dergleichen. Nichts, wodurch großer Schaden hätte angerichtet werden können. Aber das heute Nacht war ein anderes Kaliber. Es wurden Pflastersteine geworfen.“
„Wie geht es dem Opfer?“
„Er ist sehr schwer verletzt. Moment – Mein Kollege bekommt gerade eine Nachricht aus dem Krankenhaus.“
Krohmer wartete ungeduldig, er hatte kein gutes Gefühl. Dann endlich meldete sich der Kollege Schuster wieder.
„Herr Krohmer?“
„Ja?“
„Das Opfer ist vor wenigen Minuten verstorben.“
2.
Krohmer rief sofort seinen Altöttinger Kollegen Schenk an und machte seinem Ärger Luft. Natürlich wusste Schenk bereits von dem schrecklichen Unfall und fühlte sich sehr schlecht.
„Ich habe gehört, dass wir es mit einem Toten zu tun haben und Sie können vielleicht nachvollziehen, wie ich mich fühle. Ich ging von einem Streich aus. Jetzt weiß ich auch, dass ich mit meiner Einschätzung falsch lag. Wir hätten die Sache an die Kripo weiterleiten müssen, das ist mir bewusst. Nie im Leben hätte ich mit einem solchen Vorfall gerechnet. Wir haben lediglich Reste von Kürbissen und Kleinobst sichergestellt, die auch im schlimmsten Fall keinen Schaden angerichtet hätten,“ sagte Schenk kleinlaut. „Ich hielt es besser, die Kriminalpolizei und vor allem die Presse nicht zu informieren. Trotzdem sind anscheinend Informationen durchgesickert. Es hat sich eine Bürgerwehr gebildet, die seit einigen Wochen auf Brücken patrouilliert.“ Während Schenk sprach, wurde ihm übel. Ja, er wusste von dieser Bürgerwehr und nahm sie dennoch nicht ernst. Was hätten sie anrichten können? Wenn sich diese Leute die Nächte um die Ohren schlagen wollen, sollten sie das gerne tun, er hatte nichts dagegen. Er war sich sicher, dass dieser Unsinn spätestens dann wieder aufhörte, wenn die Nächte kälter wurden.
„Eine Bürgerwehr? Dann zieht die ganze Geschichte bereits viel weitere Kreise, als angenommen.“ Krohmer stöhnte auf. Wie hätte er an Schenks Stelle reagiert?
„Schicken Sie uns alles zu, was Sie über diese Brückenwürfe und die Bürgerwehr haben,“ sagte Krohmer.
„Selbstverständlich.“ Schenk hatte aufgelegt und gab die Anweisung weiter. Dann lehnte er sich zurück. Hatte er die Vorfälle nicht ernst genug genommen? Wäre es nicht seine verdammte Pflicht gewesen, sofort die Kriminalpolizei zu informieren? Nein. In seinen Augen war das ein dummer Streich, den man nicht unnötig aufbauschen sollte. Und damit lag er definitiv falsch. War er vielleicht doch schon zu alt für den Job? Noch konnte er seine Pensionierung für ein weiteres Jahr hinauszögern, München hat bereits seine Zustimmung signalisiert. Er war gerne Polizist und wusste auch nichts anderes mit sich anzufangen. Sollte er etwa Tauben füttern oder sich ein Hobby suchen, für das er seit Jahrzehnten keine Zeit hatte? Zum ersten Mal dachte er ernsthaft darüber nach, ob es nicht klüger wäre, den Stuhl endgültig frei zu machen.
Krohmer trommelte seine Leute zusammen, dieser Vorfall hatte absolute Priorität.
„Wir haben einen neuen Fall. Ein Verrückter hat gegen halb vier heute Nacht Pflastersteine von einer Brücke bei Altötting geworfen und dabei einen Wagen erwischt. Der Wagen kam von der Fahrbahn ab und überschlug sich mehrfach,“ sagte Krohmer zu seinen Kriminalbeamten der Mordkommission. „Das Unfallopfer verstarb im Krankenhaus.“
„Um wen handelt es sich?“
„Sein