Anna Q und die Suche nach Saphira. Norbert Wibben
Ballsportarten statt. Die Mannschaften werden von denen angefeuert, die gerade pausieren. Meistens tragen sie kleine Turniere untereinander aus, was die Fähigkeiten der einzelnen Spieler besonders fordert. Sie bereiten sich auf Vergleichswettkämpfe mit anderen Schulen vor, die im Herbst stattfinden sollen.
Im spätsommerlichen, warmen Wetter halten sich die meisten Schüler jedoch am nahegelegenen Fluss auf. Der Sport auf und im Wasser findet regen Zuspruch. Es wird geschwommen und in verschiedenen Booten gerudert, teilweise auch hier als Vorbereitung für die Herbstwettkämpfe.
Aber auch im Internatsgebäude halten sich Schüler auf. Manche haben sich in den Schatten der Gänge im Inneren zurückgezogen und diskutieren in kleinen Gruppen über Themen aus dem Philosophie- oder Rechtskunde-Unterricht. Einige rätseln über gestellte Mathematikaufgaben oder unterhalten sich auch einfach über private Dinge. Die großformatigen Bilder an den Wänden werden kaum beachtet. Manche von ihnen stellen Szenen dar, die zu Diskussionen über Themen zur Weltanschauung passen, oder sie zeigen Geschehnisse der Geschichte.
Im Lesesaal der Bibliothek sind viele Tische besetzt. Dort studieren Jungen und Mädchen in alten Wälzern. Die darin enthaltenen Informationen werden für Ausarbeitungen und andere Hausaufgaben genutzt.
Im Mittelbereich des Hauptgebäudes befindet sich im Erdgeschoss ein großer Speisesaal, in dem fast schon alle Plätze der langen Tischreihen für das Abendessen gedeckt sind. Viele Helfer sind hier tätig, wobei auch Schüler der oberen Klassen eingesetzt werden. Auf einem Servierwagen transportieren drei von ihnen Geschirr und Besteck. Sie bleiben am Ende einer der Tischreihen stehen und hüsteln demonstrativ. Sie wollen eine Gruppe von Schülern vertreiben, die zwei Jungen umstehen. Die sitzen sich gegenüber und sind mit Schachspielen beschäftigt.
»Jetzt ist es genug. Warum spielt ihr nicht woanders? Wir müssen die Tische vorbereiten und benötigen den Platz!« Nur widerstrebend heben die Spieler ihre Köpfe.
»Wir sind in wenigen Minuten fertig«, antwortet der ältere der beiden. »In vier Zügen ist mein Gegner schachmatt.« Der Jüngere nickt nach kurzem Überlegen und murmelt:
»Stimmt.« Er legt seinen König hin, was sofort ein Grinsen in das Gesicht des anderen zaubert. Die Jungen erheben sich.
»Ihr könnt weitermachen«, wendet sich der Ältere herablassend an die drei Schüler und richtet sich zu voller Größe auf. Der Unterlegene verstaut die Figuren in dem zusammenklappbaren Schachspiel.
»Ich wollte doch auch noch gegen Alexander spielen!«, protestiert die elfjährige Anna, die eine der umstehenden Zuschauer ist. »Ich warte seit Wochen auf die Gelegenheit dazu. Immer wieder drängen sich andere vor, so wie heute. Ich bestehe auf einem Spiel, auch wenn ich mich körperlich in diesem Gewusel nicht gegen ältere Schüler durchsetzen kann.« Das Mädchen verhindert mit Mühe, wütend mit einem Fuß aufzustampfen. Die grauen Augen blitzen zornerfüllt erst den jüngeren, dann den älteren Spieler an, wobei sie einen leicht bläulichen Schimmer annehmen.
»Was kann ich dafür?« Der gutaussehende, fünfzehnjährige Alexander schüttelt seine schwarze Lockenpracht und blickt mit einem überheblichen Gesichtsausdruck in die Runde. Er ist der unumstrittene Schach-Champion der Schule und sucht nach dem Herausforderer. Unter den Zuschauern schließt er sofort drei als Sprecher aus. Die Mädchen kommen aus seiner Klasse und spielen kein Strategiespiel, wie er weiß. Sie sind vermutlich nur hier, weil sie für ihn schwärmen. Sein Blick schweift über vier Jungen, die er bereits in der Vergangenheit mehrfach in dem Spiel geschlagen hat. Nein, die sind es auch nicht! Dann fixieren seine Augen die zierliche Anna. Sollte sie ihn gefordert haben? Aber sie ist doch eine von den Kleinen und wird erst seit Schuljahresbeginn im Internat sein. »Ich trete nicht gegen Babys an! Wenn ich auf deine Forderung eingehe, ist das Spiel schneller beendet, als es dauert, die Figuren aufzustellen. Ich will vom Gegner wenigstens etwas lernen, wenn ich schon Zeit opfere. Wenn du verlierst, und das steht für mich unumstößlich fest, wirst du vermutlich zu flennen beginnen. Wie kann das wohl meine Fähigkeiten weiterbringen?« Das laute, überhebliche Lachen wird sofort von seinen Bewunderern aufgenommen und schallt dem Mädchen ins Gesicht. Es fühlt sich an, als ob sie geschlagen worden wäre, trotzdem schaut sie den älteren Jungen trotzig an! Sie will nicht klein beigeben! Lediglich dem dreizehnjährigen Robin, dem zweiten der beiden Schachspieler, ist unbehaglich zu Mute. Er bittet Anna mit Blicken stumm um Verzeihung, da er sich tatsächlich vorgedrängt hatte. Der Junge nickt Alexander knapp zu und drängt sich aus der Mitte des Knäuels heraus. Im Weggehen wendet er sich an Anna.
»Wenn du gegen Alexander antreten möchtest, solltest du sicher sein, eine Chance zu haben. Er wirkt überheblich und von sich eingenommen, spielt aber überragend gut. Und er gilt als Champion der Schule, obwohl wir keine Wettkämpfe im Schach austragen. Falls er dich in wenigen Zügen besiegt, wirst du für lange Zeit, möglicherweise sogar das ganze Schuljahr zum Gespött aller.« Anna glaubt, ihren Ohren nicht trauen zu können. Soll das eine Warnung oder ein gutgemeinter Rat sein? Sie ruft dem Jungen hinterher. Dass die anderen, besonders aber Alexander, das hören, ist ihr völlig gleichgültig. Die arrogante Reaktion des Älteren brennt wie eine wild lodernde Flamme in ihren Gedanken.
»Das mag sein, aber ich kann und werde gegen ihn gewinnen!« Das Mädchen folgt dem Jungen, der nun stehenbleibt und sie lange betrachtet. Schließlich fordert er sie auf, mitzukommen.
»Du erinnerst mich an … Aber egal. Zu sehr von den eigenen Fähigkeiten überzeugt zu sein, ist manchmal ein Fehler. Selbst wenn du in deiner Altersklasse gut spielen solltest … Jetzt schau mich nicht so an, als ob du mir den Kopf abreißen willst. Ich weise dich nur darauf hin, dass Alexander bestimmt vier Jahre älter ist als du und über eine dementsprechend längere Spielpraxis verfügt. Das ist auf jeden Fall ein gewichtiger Vorteil. – Bis zum Essen haben wir noch etwas Zeit. Lass uns in Richtung Lesesaal gehen.« Das Mädchen mit der jungenhaften Figur und einigen Sommersprossen auf und um die gerade, schmale Nase, streicht die schulterlangen, blonden Haare rechts und links hinter die Ohren. Sie schaut Robin forschend an. Will er sich möglicherweise auf ihre Kosten über sie lustig machen? Er besitzt eine sportliche Figur und rot-blonde, kurz geschnittene Haare und ein freundliches Gesicht. Seine dunklen Augen blicken sie auffordernd an. Sie weiß, er befindet sich zwei Klassen über ihr und ist der Schwarm aller jüngeren Mädchen. Ein Treffen mit ihm wird die anderen mit Neid erfüllen. Doch das ist ihr egal!
»Was sollen wir dort? Mir ist gerade nicht nach Lesen!«
»Jetzt schau mich nicht so an, als ob ich dich ärgern will. Wenn wir uns leise verhalten, können wir dort eine Partie gegeneinander spielen. – Als kleine Wiedergutmachung für mein Vordrängen!« Er zeigt ihr das zusammengeklappte Schachspiel und langsam breitet sich ein lausbubenhaftes Grinsen auf seinem Gesicht aus. »Falls ich als Gegner gut genug für dich bin!«
Anna mag es nicht glauben. Sie befindet sich seit dem Schuljahresbeginn vor vier Wochen in diesem Internat und hat bisher niemanden aus den höheren Jahrgängen gefunden, der mit ihr eine Partie spielen wollte. In ihrer Klasse haben die meisten nur Interesse an Fußball oder an Rudern. Zu älteren Schülern hat sie bisher keinen Kontakt und weiß also nicht, wer von ihnen in Frage käme. Deshalb war sie froh, durch Zufall das nachmittägliche Treffen einiger Schachspieler im Speisesaal mitbekommen zu haben. Seitdem versuchte sie, gegen Alexander zum Zug zu kommen. Erfreut lächelt Anna Zustimmung.
»Sagst du mir zuerst deinen Namen, bitte?«
»Ich bin Robin Jury.«
»Ich freue mich, dich kennenzulernen!«, antwortet das Mädchen mit ernstem Gesicht. »Ich werde Anna Q genannt.«
»Einfach nur Q?« Der Junge schaut sie ungläubig an.
»Ja!«, ist die kurze und energische Antwort. Obwohl ihr Name Anna Qwentiz ist, kürzt sie den Nachnamen immer ab. Früher wurde sie wegen ihres Namens von Mitschülern gehänselt und musste darüber oft weinen. Auch wenn sie sich heute besser als in der Grundschule unter Kontrolle hat, will sie das möglichst vermeiden. Außerdem wirkt das »Q« geheimnisvoller, wie sie findet. Und die Praxis gibt ihr recht, da das durchaus zu einem positiven Interesse der Mitschüler führt. Robin verkneift sich eine Nachfrage, da er ihr nicht glaubt, unterlässt es dann aber doch. Ein leises Schmunzeln breitet sich auf seinem Gesicht aus.