Anna Q und die Suche nach Saphira. Norbert Wibben
Schwingen aus einem dunklen, drohenden Himmel herab auf das Mädchen zu. Er gleicht dem Kolkraben, den es befreit hat. Sein Krächzen klingt warnend, doch Anna versteht nicht, was das bedeuten soll. Feine Härchen richten sich in ihrem Nacken auf. Der große Vogel landet in Augenhöhe auf dem weit ausladenden Ast einer Linde. Der bläuliche Schein auf seinem Federkleid wird stärker. Jetzt durchschneidet ein greller Blitz die dunkle Nacht. Er strahlt bis in den Traum. Anna stöhnt erneut, als ihr scheinbar ein glühend heißes Messer zu einem Auge hinein und quer durch Schädel sticht. Für einen kurzen Moment verändert sich der Vogel und nimmt die Gestalt einer jungen Frau mit schwarzem Haar an, die dicht vor ihr steht. Dann hockt wieder der Kolkrabe auf dem Ast. Plötzlich versteht Anna, was der Rabe ihr entgegen krächzt:
»Wir brauchen Hilfe! Hüte dich vor …«
Ein lauter Donnerschlag lässt das Mädchen aufschrecken. Verstört reibt es sich die Augen. Was war das denn für ein Traum? Sofort sucht ihr Blick die Bilder über dem Schreibtisch. Sie benötigt einen Punkt, der Geborgenheit vermittelt. Dort ist ein leuchtender, blauer Schimmer zu erkennen. Anna schüttelt den Kopf und überlegt. Falls sie eine Migräne bekommt, hat sie vorher schon mal Lichterscheinungen gehabt, die aber nicht nur auf einen Ort fixiert waren. Die wanderten mit den Augenbewegungen mit. Dann kommt das schwächer werdende Leuchten wohl nicht von einem Migräneanfall! Der stechende Schmerz ist schon wieder verschwunden und dumpfe Kopfschmerzen bleiben offenbar auch aus. Soll sie trotzdem aufstehen und eine Schmerztablette nehmen? Sie könnte andererseits bei den Bildern nachschauen, woher das Schimmern stammt. Ist es eine Art Lichtreflex, der von draußen hereinscheint? Jetzt ist es ganz verschwunden. Seltsam! Bevor sie zu einem Entschluss kommt, schläft sie wieder ein.
Obwohl Anna die vergangene Nacht kürzer als sonst vorkommt, fühlt sie sich am Morgen ausgeruht. Sie denkt nur kurz an den seltsamen Traum und den bläulichen Schimmer, dann macht sie sich frisch, zieht ihre Schuluniform an und verlässt das Zimmer. Zusammen mit den anderen Schülerinnen des ersten Jahrgangs geht sie zum Haupthaus. Auf dem Weg dorthin kommen sie an der Stelle vorbei, wo sie den großen Vogel aus seinem Gefängnis befreit hatte. Der alte Gärtner steht davor und schüttelt den Kopf. Sie hört ihn verständnislos murmeln, warum die Falle ausgelöst ist, aber kein Tier gefangen wurde.
»Die Biester werden auch immer schlauer! Oder sollte jemand geholfen haben? Die Fußspuren sind gestern nicht hier gewesen, sie gehören zu Kinderfüßen.« Er dreht sich zu den Schülerinnen um und betrachtet sie mit finsterem Blick. Er vermutet offenbar, dass ihm eine von ihnen einen Streich gespielt hat. Er schüttelt stumm eine Faust in ihre Richtung und bückt sich dann zurück zur Falle. Anna nimmt sich vor, sie in der Abenddämmerung zu entschärfen. Sie will verhindern, dass der Vogel erneut darin eingesperrt wird.
Am Eingang zum Speisesaal hängt neben der Doppeltür ein Pinnbrett, auf dem aktuelle Informationen bekanntgemacht werden. Die Ansammlung sich aufgeregt unterhaltender Schüler allen Alters deutet auf eine wichtige Neuigkeit hin. Der Gong erklingt als Erinnerung, dass die Zeit für das Frühstück in fünfzehn Minuten endet. Anna kann endlich einen kurzen Blick auf ein Blatt Papier werfen, das mittig auf dem Pinnbrett befestigt ist. Ein Aufruf in fetten Buchstaben fordert dazu auf, sich bei Interesse auf große Herausforderungen am Nachmittag bis Punkt drei Uhr im Speisesaal einzufinden. Weitere Informationen und von wem dieser Ausdruck stammt, gibt es nicht. Das Mädchen schüttelt wie viele vor ihm den Kopf. Was soll das denn bedeuten? Wird hier auf die Begabung der Schüler gesetzt, sich selbst einen Reim darauf zu machen? Aber Anna hat keine Idee, was damit gemeint sein könnte. Die Anhaltspunkte sind einfach zu gering. Achselzuckend wendet sie sich ab und betritt den Speisesaal. Sie hat sich zu der Zeit mit Robin zum Schachspiel verabredet, so dass die seltsame Zusammenkunft für sie entfällt. Vielleicht hat der Junge eine Idee, worum es geht, doch sie kann ihn nirgends entdecken. Viele der Plätze sind bereits leer, da nicht alle Schüler so spät wie die Neulinge zum Essen kommen. Schnell setzt sie sich zu den Mädchen ihres Jahrgangs und greift sich einen Toast. Sie hat nicht viel Zeit für das Frühstück, bestreicht die Scheibe mit Orangenmarmelade und nimmt einen Schluck Kakao. Vor lauter Eile verbrennt sie sich fast den Mund.
Heute stehen zuerst Geschichte und danach Mathematik auf dem Plan, gefolgt von Physik und Muttersprache. Die ersten beiden Fächer gehören neben Kunst zu Annas liebsten, weshalb sie sich mit dem Essen beeilt. Sie möchte nicht zu spät im Klassenzimmer erscheinen. Als sie mit den anderen Mädchen aufspringt, müssen sie rennen. Der Weg bis in den ersten Stock ist noch weit, aber sie schafft es, pünktlich auf ihrem Platz zu sitzen.
Herausforderung
Der Vormittag geht schneller vorbei, als Anna zuerst vermutet. In Geschichte handelt der Unterricht von den Wikingern und ihren Überfällen. Bei den Berichten über die Eroberung von fast allen bisherigen Königreichen in England und der Bildung eigener, fiebert sie mit, wobei sie nicht sagen kann, auf welcher Seite sie dabei steht. Der kühle Mathematikunterricht zieht sich dagegen schon mehr, trotzdem verfliegt auch diese Doppelstunde, da die Hälfte des Unterrichts mit freiwilligen Knobelaufgaben gefüllt wird, die das neu Erlernte festigen sollen. Anna ist stets eine der Ersten, die die Aufgaben löst und dazu noch fehlerfrei. Die Professorin schaut sie lächelnd an.
»Anna, du bist ein richtiges Mathe-Ass!« Das sagt sie so leise, dass die weiteren Schüler nichts davon mitbekommen, um das Mädchen nicht als Streberin aus der Masse herauszuheben. Die anderen sind jedoch nicht wesentlich langsamer als sie, obwohl deren Lösungen manchmal kleinere Fehler aufweisen.
Der Physikunterricht nutzt das Gewitter des vergangenen Abends, um die dabei auftretenden Vorgänge zu erläutern. In kleinen Experimenten wird die statische Aufladung der Luft und der Wolkenschichten demonstriert, die sich schließlich in heftigen Blitzen entlädt. Der Raum wird verdunkelt. Eine Wolldecke wird von einigen mutigen Schülern über den Kopf gezogen. Während sie dabei die Augen offen halten, können sie kleine Blitze als Folge einer statischen Entladung sehen. Der Professor erläutert, dass dies in ungefährlicher Form dasselbe sei, wie in der Natur das Gewitter in größeren Dimensionen.
Nach einer kleinen Unterbrechung für eine Mittagspause steht Sport auf dem Plan, dann werden die Schüler in den Nachmittag und zur freien Gestaltung entsprechend ihren Neigungen entlassen.
Anna kann es kaum erwarten, das Schachspiel gegen Robin bestreiten zu können. Sie stürmt von den Sportstätten in das Haupthaus des Internats und rennt durch den Flur zur Bibliothek. Einmal muss sie plötzlich bremsen. Um eine Ecke biegend wäre sie sonst direkt in eine Gruppe diskutierender Schüler gerast. Sie gehören in die fünfte Schulklasse und schütteln verstehend die Köpfe. Es ist typisch für viele Kinder des ersten Jahrgangs, dass sie andauernd meinen, etwas zu versäumen.
Anna bremst nach wenigen Momenten erneut ihren Lauf. Was ist los? Warum steht Robin vor dem Eingang zur Bibliothek und geht nicht hinein? Sie stutzt. Er wartet doch wohl nicht auf sie, damit sie gemeinsam den Lesesaal betreten können? Ein frohes Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus.
»Robin. Das ist aber nett von dir, auf mich zu warten!« Der Junge antwortet verlegen:
»Hallo Anna. Ehrlich gesagt stehe ich nicht im Flur, damit wir gemeinsam hineingehen können. Es ist vielmehr so, dass die Tür versperrt ist. – Hast du heute Morgen einen diesbezüglichen Hinweis an der Pinnwand zum Speisesaal bemerkt?«
»Nein. Dort hing nur eine seltsame Notiz, in der es um Interesse an großen Herausforderungen ging. Das habe ich nicht verstanden. Du?« Der Junge blickt grübelnd erst sie, dann seine Armbanduhr an.
»Es passt nicht zu Professor Mulham, nicht wenigstens für eine Vertretung in der Bibliothek zu sorgen. Das im Zusammenhang mit der Notiz ist seltsam. Ob sie der Urheber der Nachricht ist?« Ein auffordernder Blick genügt, dann stürmen beide im Laufschritt Richtung Speisesaal. Die Turmuhr schlägt drei Mal, als sie die Saaltüren öffnen und hineinstolpern.
»Das war auf dem letzten Drücker!« Gleichzeitig mit diesem Ausspruch verriegelt Morwenna Mulham die Eingangstür und geht langsam zum erhöhten Podest, auf dem die Tische stehen, an denen die Professoren des Internats am Essen teilnehmen. Robin und Anna schauen sich an, dann folgen sie der