Hein Bruns: In Bilgen, Bars und Betten. Hein Bruns
Handlangern. Weiterkriechen, bis er ganz klein in seiner Holzkiste liegt. Ein Beileidsschreiben an die Witwe, und der Zuschuss hört auf. Nach seiner Pensionierung werden ihm die Angst und der Respekt vor dem Reeder und seinen Handlangern bis an sein Lebensende in den Knochen liegen. Er wird immer vor den Handlangern und von den Handlangern in devoter Unterwürfigkeit sprechen. Er weiß auch, dass der Stift, der Lehrling im Reedereikontor, einen längeren Arm hat als er. Was hat der Chief von seinem Leben, insbesondere von seiner Familie eigentlich gehabt? Nichts. Aber er hat des Reeders Besitz vermehrt… und dass der Reeder mehr Schiffe bauen konnte. Er hat auf sein Familienleben verzichten müssen, er sah seine Kinder kaum, denn in einem Hafen, wo die Maschinenreparaturen anfallen, Besprechungen mit den Inspektoren nötig sind, hat er Bestellungen von Gasöl und Schmieröl, von Ersatzteilen, Werkzeugen, Farben, Pinseln und was so eine Maschinenanlage alles an Kleinkram für eine Reise benötigt, aufzugeben und in Empfang zu nehmen. Zumindest aber dafür verantwortlich zu zeichnen. Denn er soll damit fahren, er soll damit arbeiten, und ihn fasst man ans Maul, wenn draußen auf See oder in einem überseeischen Hafen etwas fehlt oder vergessen wurde und teuer eingekauft werden muss... uns ist es unverständlich... Und seine Frau sitzt in der Kammer und sieht ihren Mann nur zu den Mahlzeiten, manchmal auch dann nicht mal. Und sie liest und handarbeitet und macht sich Sorgen um die Kinder, die vielleicht bei einer Nachbarin untergebracht sind. Sie liest und handarbeitet, und das macht sie unter anderem zu Hause auch. Aber hier hat sie doch ihren Mann: Hat sie ihn? Ja, sie hat ihn, er ist gar nicht so weit von ihr entfernt, ach was, so weit wirklich nicht... nur unten in der Maschine kraucht er herum, verschmiert und verschwitzt und verärgert. Und setzt er sich einmal ein paar Minuten zu ihr, dann wird auch sie ihre Sorgen nicht los, denn er hört gar nicht zu. Kann sich einfach nicht in ihre Gedankengänge hineinfinden, tritt nicht in ihren Kreis. Hat nur seinen Kreis, das Schiff und die Maschinenanlage. Hat seine Besprechungen mit Werftingenieuren und Bunkerfritzen, mit Inspektoren oder sonstigen Heinis... und die Frau sitzt dabei und liest oder handarbeitet und wünscht jeden Türenklopfer und Besprecher zum Teufel. Und kommt der Abend... Herrgott, ist das ein Abend... wunderschöner Abend. Nun sollte ja eigentlich das Eheleben beginnen, so ist es doch wohl, nicht? Aber wie kläglich sieht das aus, wie traurig. Dann raffen sie sich zu einem hysterischen Geschlechtsakt auf, ohne Freude, ohne seelische und manchmal sogar ohne besondere körperliche Vorbereitung. Müde und abgespannt fällt er dann in die Kissen zurück und schläft, und die Frau liegt wach. Hellwach. Ach ja, das wollte ich ihm auch noch sagen, mit dem Ältesten, das geht nicht mehr, der wird so frech, und die Zensuren in der Schule lassen nach. Da müsste doch was unternommen werden. Aber was unternehmen, was? Und das wollte die Frau auch noch sagen, dass es mit der Kleinen gesundheitlich gar nicht mehr geht, dass sie sich fortwährend erbricht und über Schmerzen im Rücken klagt und dass kein Arzt weiß, was es ist, aber sie beobachten oder sie zur weiteren Beobachtung in eine Kinderklinik überweisen will. Dass es Oma auch nicht gut geht und dass sie wohl nicht mehr lange mitmacht und dass die Frau sie pflegen muss. All das wollte die Frau noch sagen. Ach, das kann ich ihm auch morgen sagen und fällt dann in einen unruhigen Schlaf. Wird wieder aufgescheucht durch Gegröle und Gesinge und Weiberkreischen, und durch die Gänge geht eine wilde Jagd, werden schweinische Witze gerissen. Die Mannschaft oder sonst wer kommt von Land zurück und hat sich Dockschwalben und Schluckeulen und Pissnelken auf die Hörner geladen... vielleicht auch in drei Tagen einen Tripper. Ja, das kann ich ihm alles morgen sagen, morgen ist es dann wohl etwas ruhiger. Denkste. Morgen ist es genauso. Morgen ist es nicht ein Tüttelchen anders. Gewiss, da unten in der Maschine läuft das jetzt, die Hilfsdiesel und die Arbeit, aber dann kommt was anderes. Kommt ein Ingenieurassistent und möchte einen freien Tag. Kaum ist der aus der Tür, will ein anderer abmustern. Bei dem oder dem Reiniger stimmen die Überstunden nicht, der andere will zum Arzt. So ist das ein Klopfen und Kommen und Gehen und Klopfen. Was wollte die Frau nicht noch alles sagen? Vieles, vieles wollte sie sagen. Aber was sagt sie denn? Nichts! Nichts sagt sie, jedenfalls nichts zu Ende. Ja, Meiler weiß das alles, kennt den Laden und auch die Leute. Aber scheißegal, hier ist es wenigstens warm, und hier ist es nicht vornehm, hier kann man auch getrost mit einer Zeitung rascheln. Hier gibt es keine Bügelfalten und keine schweinsledernen Koffer. Hier müssen die Sinne wach und die Nerven gespannt sein. Hier kommt man nicht zum Denken, vorläufig jedenfalls nicht, über das einsame Mädchen auf dem Bahnsteig. Los, los, ran, und stell dich nicht so an, du kennst den Laden doch, bist doch kein Seekalb. Tu doch nicht so, als wäre es auf anderen Schiffen anders. Ein Kanarienvogelkapitän, ein gnomiger, kleingemachter und klein gehaltener Chief können dich noch lange nicht aus den Latschen kippen. Hoh, hoh. Ja, ja... aber wenn das Mädchen auf dem Bahnsteig nicht wäre. Ach, geht auch vorbei, legt sich alles, lass nur erst einige Tage vergehen, gewöhne dich man erst mal ein, sollst sehen... wird alles seinen Gang gehen. Kannst dich nur nicht vom süßen Leben an Land trennen, von warmen Betten und weichen Brüsten. Legt sich alles, verlass dich drauf. In der Matrosenmesse, an der er vorbei musste, stand das Lied vom Mädchen fürs Geld genauso fest wie der Rauch und der Schnapsdunst. Des Reeders Leibeigene feiern. Und sie dürfen feiern und sie können es auch. Der Schnaps ist billig, und Schnaps bekommen sie, Schnaps betäubt und trübt die Sinne. Denn der Seemann darf nicht denken, sonst könnte er vielleicht den hellen Gedanken haben, doch lieber an Land zu bleiben. Bis zu seiner Kammer nahm Melchior Meiler noch eine Hürde.
Backbordgang standen drei lederjackige Wasserschutzpolizisten vor der verschlossenen Kammertür des Kochs und forderten, der Koch solle die Tür öffnen. Spitz und grell schrie ein Kind. Zeterte eine Frau. Fluchte ein Mann. Zersplitterte die Füllung einer Tür... Polizeistiefel sind benagelt. Bierflaschen rollten, liefen schäumend leer. Schlachtermesser scheppern an Deck. Faustschläge. Schreie. Der Koch wurde verhaftet. Schreie, Faustschläge. Das Kind in der Koje. Die Frau mit offenen Haaren und Bluse. Eine junge Frau. Du Schwein. Du Hund. Knips machte die stählerne „Acht“, einfach knips, hässlich knips und ab. Jetzt brauchte der Koch für sich und seine Familie vorerst nicht zu sorgen. Er schrie nach seiner Frau, nach seinem Kind. Trat, schimpfte, fluchte, spuckte. Die Frau gebärdete sich wie eine Furie. Die Frau lag eine Stunde später mit einem Matrosen im Bett und machte eine Nummer. Das Kind spielte auf dem Sofa. Es war mal wieder ganz nett bei der christlichen Seefahrt. Die nächste Hürde. So schnell frisst ein Schiff nun auch nicht. III. Ingenieur. Das kleine weiße Kunststoffschild oberhalb der nächsten Kammertür, das mit den schwarzen Buchstaben III. Ingenieur, bat Meiler, doch hier einzutreten. Deckenlampe. Weißes Licht. Ein Tisch und auf durchgefettetem Zeitungspapier ein zerfetzter Bückling. Kopf halbiert, die Kiemen wie verrostete Zahnräder. Boulevardzeitungsruf: Kugel im Kopf und nichts gemerkt. Sofa, in die Ecke gehauen, gelbinselig gefleckt. Zwei Bullaugen. Blind. Grünspan. Matratzen auf der Koje boten Seegras feil. Waschbecken vollgekotzt. Bücklingsreste, einmal runter, einmal rauf und raus. Zwei Wasserhähne, für Kalt- und Warmwasser, ausgerichtet wie zwei preußische Grenadiere. Welcher Komfort. Unter dem Tisch ein Mann. Hose und Träger. Perlonhemd. Der Mann schlief und war besoffen. Und draußen, außerhalb des Raumes, oberhalb der Tür ein kleines Kunststoffschild mit schwarzen Buchstaben: III. Ingenieur. Die Matrosen sangen: „Denn es kann ja nichts Schöneres geben, als in Hamburg ein Mädchen fürs Geld.“ Eine „Kugel“ rollte sich in die Kammer, eine „Kugel“ in einem verdreckten Overall, sie wurde von Meilers Koffer gestoppt. „Wer sind Sie denn? ... Ach so... Sie... Sie sind der neue Dritte, nich? ... Ich... sehen Sie mich an, ... ich bin der Zweite Ingenieur hier... oder haben Sie was dagegen?“ „Nö“, sagte Meiler, „aber es kommt drauf an und kann noch kommen.“ „So?... Das sehen wir dann schon... aber erst sehn Sie man zu, dass Sie den da hochkriegen... der muss von Bord… kann ja nix vertragen… das Arschloch. Ach, lass man, mach ich!“ Fußtritte halfen, dass das Bündel sich an Tischkante und Zeitung hochhantelte. Das Bündel lehnte sich an die Kugel und den Tisch, sie rissen die Zeitung mit dem Bückling zu Boden, sie küssten sich, sie zertraten und zerstampften den Bückling. Nun war Melchior Meiler vom Schiff verschlungen.
Draußen knisterte eine Winternacht. Fuhr ein Taxi zurück. Schlief eine Stadt. Glänzte, schimmerte wohl noch ein Licht. Zuckten Sterne am Winterhimmel. Trugen Fernzüge die Nacht in den Morgen. Weit, weit über zwei Fernbahnhöfe hinaus auf langen stählernen, eisigen Schienen entlang, lebt ein Mädchen - sein Mädchen.
Kapitel 3
Monsieur Vignaud war beliebt oder besser gesagt, er wurde beliebt, oder noch besser gesagt, er