Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe
verehrt habe. Die Mutter kam nicht zurück. Endlich trat der Dolmetscher herein. Auf seinen Wink schickte man uns zu Bette; es war schon spät, und wir gehorchten gern. Nach einer ruhig durchschlafenen Nacht erfuhren wir die gewaltsame Bewegung, die gestern abend das Haus erschüttert hatte. Der Königslieutenant hatte sogleich befohlen, den Vater auf die Wache zu führen. Die Subalternen wußten wohl, daß ihm niemals zu widersprechen war; doch hatten sie sich manchmal Dank verdient, wenn sie mit der Ausführung zauderten. Diese Gesinnung wußte der Gevatter Dolmetsch, den die Geistesgegenwart niemals verließ, aufs lebhafteste bei ihnen rege zu machen. Der Tumult war ohnehin so groß, daß eine Zögerung sich von selbst versteckte und entschuldigte. Er hatte meine Mutter herausgerufen, und ihr den Adjutanten gleichsam in die Hände gegeben, daß sie durch Bitten und Vorstellungen nur einigen Aufschub erlangen möchte. Er selbst eilte schnell hinauf zum Grafen, der sich bei der großen Beherrschung seiner selbst sogleich ins innre Zimmer zurückgezogen hatte, und das dringendste Geschäft lieber einen Augenblick stocken ließ, als daß er den einmal in ihm erregten bösen Mut an einem Unschuldigen gekühlt und eine seiner Würde nachteilige Entscheidung gegeben hätte.
Die Anrede des Dolmetschers an den Grafen, die Führung des ganzen Gesprächs hat uns der dicke Gevatter, der sich auf den glücklichen Erfolg nicht wenig zugute tat, oft genug wiederholt, so daß ich sie aus dem Gedächtnis wohl noch aufzeichnen kann.
Der Dolmetsch hatte gewagt, das Kabinett zu eröffnen und hineinzutreten, eine Handlung, die höchst verpönt war. »Was wollt Ihr?« rief ihm der Graf zornig entgegen. »Hinaus mit Euch! Hier hat niemand das Recht hereinzutreten als Saint-Jean.«
»So haltet mich einen Augenblick für Saint-Jean«, versetzte der Dolmetsch.
»Dazu gehört eine gute Einbildungskraft. Seiner zwei machen noch nicht einen wie Ihr seid. Entfernt Euch!«
»Herr Graf, Ihr habt eine große Gabe vom Himmel empfangen und an die appelliere ich.«
»Ihr denkt mir zu schmeicheln! Glaubt nicht, daß es Euch gelingen werde.«
»Ihr habt die große Gabe, Herr Graf, auch in Augenblicken der Leidenschaft, in Augenblicken des Zorns die Gesinnungen anderer anzuhören.«
»Wohl, wohl! Von Gesinnungen ist eben die Rede, die ich zu lange angehört habe. Ich weiß nur zu gut, daß man uns hier nicht liebt, daß uns diese Bürger scheel ansehn.«
»Nicht alle!«
»Sehr viele! Was! diese Städter, Reichsstädter wollen sie sein? Ihren Kaiser haben sie wählen und krönen sehen, und wenn dieser, ungerecht angegriffen, seine Länder zu verlieren und einem Usurpator zu unterliegen Gefahr läuft, wenn er glücklicherweise getreue Alliierte findet, die ihr Geld, ihr Blut zu seinem Vorteil verwenden, so wollen sie die geringe Last nicht tragen, die zu ihrem Teil sie trifft, daß der Reichsfeind gedemütigt werde.«
»Freilich kennt Ihr diese Gesinnungen schon lange, und habt sie als ein weiser Mann geduldet; auch ist es nur die geringere Zahl. Wenige, verblendet durch die glänzenden Eigenschaften des Feindes, den Ihr ja selbst als einen außerordentlichen Mann schätzt, wenige nur, Ihr wißt es!«
»Jawohl! zu lange habe ich es gewußt und geduldet, sonst hätte dieser sich nicht unterstanden, mir in den bedeutendsten Augenblicken solche Beleidigungen ins Gesicht zu sagen. Es mögen sein so viel ihrer wollen, sie sollen in diesem ihrem kühnen Repräsentanten gestraft werden, und sich merken, was sie zu erwarten haben.«
»Nur Aufschub, Herr Graf!«
»In gewissen Dingen kann man nicht zu geschwind verfahren.«
»Nur einen kurzen Aufschub!«
»Nachbar! Ihr denkt mich zu einem falschen Schritt zu verleiten; es soll Euch nicht gelingen.«
»Weder verleiten will ich Euch zu einem falschen Schritt, noch von einem falschen zurückhalten; Euer Entschluß ist gerecht: er geziemt dem Franzosen, dem Königslieutenant; aber bedenkt, daß Ihr auch Graf Thoranc seid.«
»Der hat hier nicht mitzusprechen.«
»Man sollte den braven Mann doch auch hören.«
»Nun, was würde er denn sagen?«
»›Herr Königslieutenant!‹ würde er sagen, ›Ihr habt so lange mit so viel dunklen, unwilligen, ungeschickten Menschen Geduld gehabt, wenn sie es Euch nur nicht gar zu arg machten. Dieser hat's freilich sehr arg gemacht; aber gewinnt es über Euch, Herr Königslieutenant! und jedermann wird Euch deswegen loben und preisen.‹«
»Ihr wißt, daß ich Eure Possen manchmal leiden kann, aber mißbraucht nicht mein Wohlwollen. Diese Menschen, sind sie denn ganz verblendet? Hätten wir die Schlacht verloren, in diesem Augenblick, was würde ihr Schicksal sein? Wir schlagen uns bis vor die Tore, wir sperren die Stadt, wir halten, wir verteidigen uns, um unsere Retirade über die Brücke zu decken. Glaubt Ihr, daß der Feind die Hände in den Schoß gelegt hätte? Er wirft Granaten und was er bei der Hand hat, und sie zünden, wo sie können. Dieser Hausbesitzer da, was will er? In diesen Zimmern hier platzte jetzt wohl eine Feuerkugel und eine andere folgte hintendrein; in diesen Zimmern, deren vermaledeite Pekingtapeten ich geschont, mich geniert habe, meine Landkarten nicht aufzunageln! Den ganzen Tag hätten sie auf den Knien liegen sollen.«
»Wie viele haben das getan!«
»Sie hätten sollen den Segen für uns erflehen; den Generalen und Offizieren mit Ehren- und Freudenzeichen, den ermatteten Gemeinen mit Erquickung entgegengehen. Anstatt dessen verdirbt mir der Gift dieses Parteigeistes die schönsten, glücklichsten, durch so viel Sorgen und Anstrengungen erworbenen Augenblicke meines Lebens!«
»Es ist ein Parteigeist; aber Ihr werdet ihn durch die Bestrafung dieses Mannes nur vermehren. Die mit ihm Gleichgesinnten werden Euch als einen Tyrannen, als einen Barbaren ausschreien; sie werden ihn als einen Märtyrer betrachten, der für die gute Sache gelitten hat; und selbst die anders Gesinnten, die jetzt seine Gegner sind, werden in ihm nur den Mitbürger sehen, werden ihn bedauern und, indem sie Euch recht geben, dennoch finden, daß Ihr zu hart verfahren seid.«
»Ich habe Euch schon zu lange angehört; macht, daß Ihr fortkommt!«
»So hört nur noch dieses! Bedenkt, daß es das Unerhörteste ist, was diesem Manne, was dieser Familie begegnen könnte. Ihr hattet nicht Ursache, von dem guten Willen des Hausherrn erbaut zu sein; aber die Hausfrau ist allen Euren Wünschen zuvorgekommen, und die Kinder haben Euch als ihren Oheim betrachtet. Mit diesem einzigen Schlag werdet Ihr den Frieden und das Glück dieser Wohnung auf ewig zerstören. Ja, ich kann wohl sagen, eine Bombe, die ins Haus gefallen wäre, würde nicht größere Verwüstungen darin angerichtet haben. Ich habe Euch so oft über Eure Fassung bewundert, Herr Graf; gebt mir diesmal Gelegenheit, Euch anzubeten. Ein Krieger ist ehrwürdig, der sich selbst in Feindes Haus als einen Gastfreund betrachtet; hier ist kein Feind, nur ein Verirrter. Gewinnt es über Euch, und es wird Euch zu ewigem Ruhme gereichen!«
»Das müßte wunderlich zugehen«, versetzte der Graf mit einem Lächeln.
»Nur ganz natürlich«, erwiderte der Dolmetscher. »Ich habe die Frau, die Kinder nicht zu Euren Füßen geschickt: denn ich weiß, daß Euch solche Szenen verdrießlich sind; aber ich will Euch die Frau, die Kinder schildern, wie sie Euch danken; ich will sie Euch schildern, wie sie sich zeitlebens von dem Tage der Schlacht bei Bergen und von Eurer Großmut an diesem Tage unterhalten, wie sie es Kindern und Kindeskindern erzählen, und auch Fremden ihr Interesse für Euch einzuflößen wissen: eine Handlung dieser Art kann nicht untergehen!«
»Ihr trefft meine schwache Seite nicht, Dolmetscher. An den Nachruhm pfleg' ich nicht zu denken, der ist für andere, nicht für mich; aber im Augenblick recht zu tun, meine Pflicht nicht zu versäumen, meiner Ehre nichts zu vergeben, das ist meine Sorge. Wir haben schon zu viel Worte gemacht; jetzt geht hin – und laßt Euch von den Undankbaren danken, die ich verschone!«
Der Dolmetsch, durch diesen unerwartet glücklichen Ausgang überrascht und bewegt, konnte sich der Tränen nicht enthalten, und wollte dem Grafen die Hände küssen; der Graf wies ihn ab und sagte streng und ernst: »Ihr wißt, daß ich dergleichen nicht leiden