Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe
Bade aus, und warf den ganzen Plunder desto entschiedener von mir, je mehr ich zu bemerken glaubte, daß die Autoren selbst, welche vortreffliche Sachen hervorbrachten, wenn sie darüber zu reden anfingen, wenn sie den Grund ihres Handelns angaben, wenn sie sich verteidigen, entschuldigen, beschönigen wollten, doch auch nicht immer den rechten Fleck zu treffen wußten. Ich eilte daher wieder zu dem lebendig Vorhandenen, besuchte das Schauspiel weit eifriger, las gewissenhafter und ununterbrochner, so daß ich in dieser Zeit Racine und Mollière ganz, und von Corneille einen großen Teil durchzuarbeiten die Anhaltsamkeit hatte.
Der Königslieutenant wohnte noch immer in unserm Hause. Er hatte sein Betragen in nichts geändert, besonders gegen uns; allein es war merklich, und der Gevatter Dolmetsch wußte es uns noch deutlicher zu machen, daß er sein Amt nicht mehr mit der Heiterkeit, nicht mehr mit dem Eifer verwaltete wie anfangs, obgleich immer mit derselben Rechtschaffenheit und Treue. Sein Wesen und Betragen, das eher einen Spanier als einen Franzosen ankündigte, seine Launen, die doch mitunter Einfluß auf ein Geschäft hatten, seine Unbiegsamkeit gegen die Umstände, seine Reizbarkeit gegen alles, was seine Person oder Charakter berührte, dieses zusammen mochte ihn doch zuweilen mit seinen Vorgesetzten in Konflikt bringen. Hiezu kam noch, daß er in einem Duell, welches sich im Schauspiel entsponnen hatte, verwundet wurde, und man dem Königslieutenant übel nahm, daß er selbst eine verpönte Handlung als oberster Polizeimeister begangen. Alles dieses mochte, wie gesagt, dazu beitragen, daß er in sich gezogner lebte und hier und da vielleicht weniger energisch verfuhr.
Indessen war nun schon eine ansehnliche Partie der bestellten Gemälde abgeliefert. Graf Thoranc brachte seine Freistunden mit der Betrachtung derselben zu, indem er sie in gedachtem Giebelzimmer, Bahne für Bahne, breiter und schmäler, neben einander und, weil es an Platz mangelte, sogar über einander nageln, wieder abnehmen und aufrollen ließ. Immer wurden die Arbeiten aufs neue untersucht, man erfreute sich wiederholt an den Stellen, die man für die gelungensten hielt; aber es fehlte auch nicht an Wünschen, dieses oder jenes anders geleistet zu sehen.
Hieraus entsprang eine neue und ganz wundersame Operation. Da nämlich der eine Maler Figuren, der andere die Mittelgründe und Fernen, der dritte die Bäume, der vierte die Blumen am besten arbeitete, so kam der Graf auf den Gedanken, ob man nicht diese Talente in den Bildern vereinigen, und auf diesem Wege vollkommene Werke hervorbringen könne. Der Anfang ward sogleich damit gemacht, daß man z.B. in eine fertige Landschaft noch schöne Herden hineinmalen ließ. Weil nun aber nicht immer der gehörige Platz dazu da war, es auch dem Tiermaler auf ein paar Schafe mehr oder weniger nicht ankam, so war endlich die weiteste Landschaft zu enge. Nun hatte der Menschenmaler auch noch die Hirten und einige Wandrer hineinzubringen; diese nahmen sich wiederum einander gleichsam die Luft, und man war verwundert, wie sie nicht sämtlich in der freiesten Gegend erstickten. Man konnte niemals voraussehen, was aus der Sache werden würde, und wenn sie fertig war, befriedigte sie nicht. Die Maler wurden verdrießlich. Bei den ersten Bestellungen hatten sie gewonnen, bei diesen Nacharbeiten verloren sie, obgleich der Graf auch diese sehr großmütig bezahlte. Und da die von mehrern auf einem Bilde durch einander gearbeiteten Teile, bei aller Mühe, keinen guten Effekt hervorbrachten, so glaubte zuletzt ein jeder, daß seine Arbeit durch die Arbeiten der andern verdorben und vernichtet worden; daher wenig fehlte, die Künstler hätten sich hierüber entzweit und wären in unversöhnliche Feindschaft geraten. Dergleichen Veränderungen oder vielmehr Zutaten wurden in gedachtem Atelier, wo ich mit den Künstlern ganz allein blieb, ausgefertiget; und es unterhielt mich, aus den Studien, besonders der Tiere, dieses und jenes Einzelne, diese oder jene Gruppe auszusuchen, und sie für die Nähe oder die Ferne in Vorschlag zu bringen; worin man mir denn manchmal aus Überzeugung oder Geneigtheit zu willfahren pflegte.
Die Teilnehmenden an diesem Geschäft wurden also höchst mutlos, besonders Seekatz, ein sehr hypochondrischer und in sich gezogner Mann, der zwar unter Freunden durch eine unvergleichlich heitre Laune sich als den besten Gesellschafter bewies, aber, wenn er arbeitete, allein, in sich gekehrt und völlig frei wirken wollte. Dieser sollte nun, wenn er schwere Aufgaben gelöst, sie mit dem größten Fleiß und der wärmsten Liebe, deren er immer fähig war, vollendet hatte, zu wiederholten Malen von Darmstadt nach Frankfurt reisen, um entweder an seinen eigenen Bildern etwas zu verändern, oder fremde zu staffieren, oder gar unter seinem Beistand durch einen Dritten seine Bilder ins Buntscheckige arbeiten wo zu lassen. Sein Mißmut nahm zu, sein Widerstand entschied sich, und es brauchte großer Bemühungen von unserer Seite, um diesen Gevatter – denn auch er war's geworden – nach des Grafen Wünschen zu lenken. Ich erinnere mich noch, daß, als schon die Kasten bereit standen, um die sämtlichen Bilder in der Ordnung einzupacken, in welcher sie an dem Ort ihrer Bestimmung der Tapezierer ohne weiteres aufheften konnte, daß, sage ich, nur eine kleine doch unumgängliche Nacharbeit erfordert wurde, Seekatz aber nicht zu bewegen war herüberzukommen. Er hatte freilich noch zu guter Letzt das Beste getan, was er vermochte, indem er die vier Elemente in Kindern und Knaben, nach dem Leben, in Türstücken dargestellt, und nicht allein auf die Figuren, sondern auch auf die Beiwerke den größten Fleiß gewendet hatte. Diese waren abgeliefert, bezahlt, und er glaubte auf immer aus der Sache geschieden zu sein; nun aber sollte er wieder herüber, um einige Bilder, deren Maße etwas zu klein genommen worden, mit wenigen Pinselzügen zu erweitern. Ein anderer, glaubte er, könne das auch tun; er hatte sich schon zu neuer Arbeit eingerichtet; kurz, er wollte nicht kommen. Die Absendung war vor der Türe, trocknen sollte es auch noch, jeder Verzug war mißlich; der Graf, in Verzweiflung, wollte ihn militärisch abholen lassen. Wir alle wünschten die Bilder endlich fort zu sehen, und fanden zuletzt keine Auskunft, als daß der Gevatter Dolmetsch sich in einen Wagen setzte und den Widerspenstigen mit Frau und Kind herüberholte, der dann von dem Grafen freundlich empfangen, wohl gepflegt, und zuletzt reichlich beschenkt entlassen wurde.
Nach den fortgeschafften Bildern zeigte sich ein großer Friede im Hause. Das Giebelzimmer im Mansard wurde gereinigt und mir übergeben, und mein Vater, wie er die Kasten fortschaffen sah, konnte sich des Wunsches nicht erwehren, den Grafen hinterdrein zu schicken. Denn wie sehr die Neigung des Grafen auch mit der seinigen übereinstimmte; wie sehr es den Vater freuen mußte, seinen Grundsatz, für lebende Meister zu sorgen, durch einen Reicheren so fruchtbar befolgt zu sehen; wie sehr es ihn schmeicheln konnte, daß seine Sammlung Anlaß gegeben, einer Anzahl braver Künstler in bedrängter Zeit einen so ansehnlichen Erwerb zu verschaffen: so fühlte er doch eine solche Abneigung gegen den Fremden, der in sein Haus eingedrungen, daß ihm an dessen Handlungen nichts recht dünken konnte. Man solle Künstler beschäftigen, aber nicht zu Tapetenmalern erniedrigen; man solle mit dem, was sie nach ihrer Überzeugung und Fähigkeit geleistet, wenn es einem auch nicht durchgängig behage, zufrieden sein und nicht immer daran markten und mäkeln: genug, es gab, ungeachtet des Grafen eigner liberaler Bemühung, ein für allemal kein Verhältnis. Mein Vater besuchte jenes Zimmer bloß, wenn sich der Graf bei Tafel befand, und ich erinnere mich nur ein einziges Mal, als Seekatz sich selbst übertroffen hatte und das Verlangen, diese Bilder zu sehen, das ganze Haus herbeitrieb, daß mein Vater und der Graf zusammentreffend an diesen Kunstwerken ein gemeinsames Gefallen bezeigten, das sie an einander selbst nicht finden konnten.
Kaum hatten also die Kisten und Kasten das Haus geräumt, als der früher eingeleitete aber unterbrochne Betrieb, den Grafen zu entfernen, wieder angeknüpft wurde. Man suchte durch Vorstellungen die Gerechtigkeit, die Billigkeit durch Bitten, durch Einfluß die Neigung zu gewinnen, und brachte es endlich dahin, daß die Quartierherren den Beschluß faßten: es solle der Graf umlogiert, und unser Haus, in Betracht der seit einigen Jahren unausgesetzt Tag und Nacht getragnen Last, künftig mit Einquartierung verschont werden. Damit sich aber hierzu ein scheinbarer Vorwand finde, so solle man in eben den ersten Stock, den bisher der Königslieutenant besetzt gehabt, Mietleute einnehmen und dadurch eine neue Bequartierung gleichsam unmöglich machen. Der Graf, der nach der Trennung von seinen geliebten Gemälden kein besonderes Interesse mehr am Hause fand, auch ohnehin bald abgerufen und versetzt zu werden hoffte, ließ es sich ohne Widerrede gefallen, eine andere gute Wohnung zu beziehen, und schied von uns in Frieden und gutem Willen. Auch verließ er bald darauf die Stadt und erhielt stufenweise noch verschiedene Chargen, doch, wie man hörte, nicht zu seiner Zufriedenheit. Er hatte indes das Vergnügen, jene so emsig von ihm besorgten Gemälde in dem Schlosse seines Bruders glücklich angebracht zu sehen; schrieb einige Male, sendete Maße und ließ von den mehr genannten Künstlern verschiedenes nacharbeiten. Endlich vernahmen wir nichts