Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe


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und könne nur von Gelehrten und den Geübtesten geleistet werden. Ich mußte mich also bequemen, auch diese kleinen Merkzeichen kennen zu lernen; aber die Sache ward mir immer verworrner. Nun sollten einige der ersten größern Urzeichen an ihrer Stelle gar nichts gelten, damit ihre kleinen Nachgebornen doch ja nicht umsonst dastehen möchten. Dann sollten sie einmal wieder einen leisen Hauch, dann einen mehr oder weniger harten Kehllaut andeuten, bald gar nur als Stütze und Widerlage dienen. Zuletzt aber, wenn man sich alles wohl gemerkt zu haben glaubte, wurden einige der großen sowohl als der kleinen Personnagen in den Ruhestand versetzt, so daß das Auge immer sehr viel und die Lippe sehr wenig zu tun hatte.

      Indem ich nun dasjenige, was mir dem Inhalt nach schon bekannt war, in einem fremden kauderwelschen Idiom herstottern sollte, wobei mir denn ein gewisses Näseln und Gurgeln als ein Unerreichbares nicht wenig empfohlen wurde, so kam ich gewissermaßen von der Sache ganz ab, und amüsierte mich auf eine kindische Weise an den seltsamen Namen dieser gehäuften Zeichen. Da waren Kaiser, Könige und Herzoge, die, als Akzente hie und da dominierend, mich nicht wenig unterhielten. Aber auch diese schalen Späße verloren bald ihren Reiz. Doch wurde ich dadurch schadlos gehalten, daß mir beim Lesen, Übersetzen, Wiederholen, Auswendiglernen der Inhalt des Buchs um so lebhafter entgegentrat, und dieser war es eigentlich, über welchen ich von meinem alten Herrn Aufklärung verlangte. Denn schon vorher waren mir die Widersprüche der Überlieferung mit dem Wirklichen und Möglichen sehr auffallend gewesen, und ich hatte meine Hauslehrer durch die Sonne, es die zu Gibeon, und den Mond, der im Tal Ajalon still stand, in manche Not versetzt; gewisser anderer Unwahrscheinlichkeiten und Inkongruenzen nicht zu gedenken. Alles dergleichen ward nun aufgeregt, indem ich mich, um von dem Hebräischen Meister zu werden, mit dem Alten Testament ausschließlich beschäftigte, und solches nicht mehr in Luthers Übersetzung, sondern in der wörtlichen beigedruckten Version des Sebastian Schmid, den mir mein Vater sogleich angeschafft hatte, durchstudierte. Hier fingen unsere Stunden leider an, was die Sprachübungen betrifft, lückenhaft zu werden. Lesen, Exponieren, Grammatik, Aufschreiben und Hersagen von Wörtern dauerte selten eine völlige halbe Stunde: denn ich fing sogleich an, auf den Sinn der Sache loszugehen, und, ob wir gleich noch in dem ersten Buche Mosis befangen waren, mancherlei Dinge zur Sprache zu bringen, welche mir aus den spätern Büchern im Sinne lagen. Anfangs suchte der gute Alte mich von solchen Abschweifungen zurückzuführen, zuletzt aber schien es ihn selbst zu unterhalten. Er kam nach seiner Art nicht aus dem Husten und Lachen, und wiewohl er sich sehr hütete, mir eine Auskunft zu geben, die ihn hätte kompromittieren können, so ließ meine Zudringlichkeit doch nicht nach; ja da mir mehr daran gelegen war, meine Zweifel vorzubringen als die Auflösung derselben zu erfahren, so wurde ich immer lebhafter und kühner, wozu er mich durch sein Betragen zu berechtigen schien. Übrigens konnte ich nichts aus ihm bringen, als daß er ein über das andre Mal mit seinem bauchschütternden Lachen ausrief: »Er närrischer Kerl! Er närrischer Junge!«

      Indessen mochte ihm meine die Bibel nach allen Seiten durchkreuzende, kindische Lebhaftigkeit doch ziemlich ernsthaft und einiger Nachhülfe wert geschienen haben. Er verwies mich daher nach einiger Zeit auf das große englische Bibelwerk, welches in seiner Bibliothek bereitstand, und in welchem die Auslegung schwerer und bedenklicher Stellen auf eine verständige und kluge Weise unternommen war. Die Übersetzung hatte durch die großen Bemühungen deutscher Gottesgelehrten Vorzüge vor dem Original erhalten. Die verschiedenen Meinungen waren angeführt, und zuletzt eine Art von Vermittelung versucht, wobei die Würde des Buchs, der Grund der Religion und der Menschenverstand einigermaßen neben einander bestehen konnten. So oft ich nun gegen Ende der Stunde mit hergebrachten Fragen und Zweifeln auftrat, so oft deutete er auf das Repositorium; ich holte mir den Band, er ließ mich lesen, blätterte in seinem Lucian, und wenn ich über das Buch meine Anmerkungen machte, war sein gewöhnliches Lachen alles, wodurch er meinen Scharfsinn erwiderte. In den langen Sommertagen ließ er mich sitzen, solange ich lesen konnte, manchmal allein; nur dauerte es eine Weile, bis er mir erlaubte, einen Band nach dem andern mit nach Hause zu nehmen.

      Der Mensch mag sich wenden wohin er will, er mag unternehmen was es auch sei, stets wird er auf jenen Weg wieder zurückkehren, den ihm die Natur einmal vorgezeichnet hat. So erging es auch mir im gegenwärtigen Falle. Die Bemühungen um die Sprache, um den Inhalt der Heiligen Schriften selbst endigten zuletzt damit, daß von jenem schönen und viel gepriesenen Lande, seiner Umgebung und Nachbarschaft, sowie von den Völkern und Ereignissen, welche jenen Fleck der Erde durch Jahrtausende hindurch verherrlichten, eine lebhaftere Vorstellung in meiner Einbildungskraft hervorging.

      Dieser kleine Raum sollte den Ursprung und das Wachstum des Menschengeschlechts sehen; von dorther sollten die ersten und einzigsten Nachrichten der Urgeschichte zu uns gelangen, und ein solches Lokal sollte zugleich so einfach und faßlich, als mannigfaltig und zu den wundersamsten Wanderungen und Ansiedelungen geeignet vor unserer Einbildungskraft liegen. Hier zwischen vier benannten Flüssen war aus der ganzen zu bewohnenden Erde ein kleiner, höchst anmutiger Raum dem jugendlichen Menschen ausgesondert. Hier sollte er seine ersten Fähigkeiten entwickeln, und hier sollte ihn zugleich das Los treffen, das seiner ganzen Nachkommenschaft beschieden war, seine Ruhe zu verlieren, indem er nach Erkenntnis strebte. Das Paradies war verscherzt; die Menschen mehrten und verschlimmerten sich; die an die Unarten dieses Geschlechte noch nicht gewohnten Elohim wurden ungeduldig und vernichteten es von Grund aus. Nur wenige wurden aus der allgemeinen Überschwemmung gerettet; und kaum hatte sich diese greuliche Flut verlaufen, als der bekannte vaterländische Boden schon wieder vor den Blicken der dankbaren Geretteten lag. Zwei Flüsse von vieren, Euphrat und Tigris, flossen noch in ihren Betten. Der Name des ersten blieb; den andern schien sein Lauf zu bezeichnen. Genauere Spuren des Paradieses wären nach einer so großen Umwälzung nicht zu fordern gewesen. Das erneute Menschengeschlecht ging von hier zum zweitenmal aus; es fand Gelegenheit, sich auf alle Arten zu nähren und zu beschäftigen, am meisten aber große Herden zahmer Geschöpfe um sich zu versammeln und mit ihnen nach allen Seiten hinzuziehen.

      Diese Lebensweise sowie die Vermehrung der Stämme nötigte die Völker bald, sich von einander zu entfernen. Sie konnten sich sogleich nicht entschließen, ihre Verwandten und Freunde für immer fahren zu lassen; sie kamen auf den Gedanken, einen hohen Turm zu bauen, der ihnen aus weiter Ferne den Weg wieder zurück weisen sollte. Aber dieser Versuch mißlang wie jenes erste Bestreben. Sie sollten nicht zugleich glücklich und klug, zahlreich und einig sein. Die Elohim verwirrten sie, der Bau unterblieb, die Menschen zerstreuten sich; die Welt war bevölkert, aber entzweit.

      Unser Blick, unser Anteil bleibt aber noch immer an diese Gegenden geheftet. Endlich geht abermals ein Stammvater von hier aus, der so glücklich ist, seinen Nachkommen einen entschiedenen Charakter aufzuprägen, und sie dadurch für ewige Zeiten zu einer großen, und bei allem Glücks- und Ortswechsel zusammenhaltenden Nation zu vereinigen.

      Vom Euphrat aus, nicht ohne göttlichen Fingerzeig, wandert Abraham gegen Westen. Die Wüste setzt seinem Zug kein entschiedenes Hindernis entgegen; er gelangt an den Jordan, zieht über den Fluß und verbreitet sich in den schönen mittägigen Gegenden von Palästina. Dieses Land war schon früher in Besitz genommen und ziemlich bewohnt. Berge, nicht allzu hoch aber steinig und unfruchtbar, waren von vielen bewässerten, dem Anbau günstigen Tälern durchschnitten. Städte, Flecken, einzelne Ansiedelungen lagen zerstreut auf der Fläche, auf Abhängen des großen Tals, dessen Wasser sich im Jordan sammeln. So bewohnt, so bebaut war das Land, aber die Welt noch groß genug, und die Menschen nicht auf den Grad sorgfältig, bedürfnisvoll und tätig, um sich gleich aller ihrer Umgebungen zu bemächtigen. Zwischen jenen Besitzungen erstreckten sich große Räume, in welchen weidende Züge sich bequem hin und her bewegen konnten. In solchen Räumen hält sich Abraham auf, sein Bruder Lot ist bei ihm; aber sie können nicht lange an solchen Orten verbleiben. Eben jene Verfassung des Landes, dessen Bevölkerung bald zu- bald abnimmt, und dessen Erzeugnisse sich niemals mit dem Bedürfnis im Gleichgewicht erhalten, bringt unversehens eine Hungersnot hervor, und der Eingewanderte leidet mit dem Einheimischen, dem er durch seine zufällige Gegenwart die eigne Nahrung verkümmert hat. Die beiden chaldäischen Brüder ziehen nach Ägypten, und so ist uns der Schauplatz vorgezeichnet, auf dem einige tausend Jahre die bedeutendsten Begebenheiten der Welt vorgehen sollten. Vom Tigris zum Euphrat, vom Euphrat zum Nil sehen wir die Erde bevölkert, und in diesem Raume einen bekannten, den Göttern geliebten, uns schon wert gewordnen Mann mit Herden und Gütern hin und wider ziehen und sie in kurzer Zeit


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