John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski. John Henry Mackay
zu brechen und von sich zu werfen.
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Die Besprechungen, welche meinem Werke und seinen Übersetzungen so reichlich zu Teil geworden sind, haben ihm nichts nehmen und mir nichts geben können. Die Absicht, auf einige derselben zu antworten, gab ich auf; ich überzeugte mich, dass der Liebe Müh' doch umsonst sein würde. Von den Kommunisten wurden keine anderen, als die alten Argumente vorgebracht – dass ich sie aufs Neue widerlegen würde, durften sie selbst nicht erwarten; den professionellen Kritikern der Literatur waren die hier behandelten Fragen völlig verschlossen – ein Verständnis daher nicht zu erwarten; die große Tagespresse, die „Dirne der öffentlichen Meinung“, schwieg natürlich – sie wusste warum; und die meisten von den Organen der sozialdemokratischen Presse, welche sich das Werk unter ausdrücklicher Zusicherung einer Besprechung von Zürich senden ließen, kamen in ihrer feigen Servilität und jammervollen Abhängigkeit noch rechtzeitig von einem Entschlusse zurück, dessen Ausführung an Allerhöchster Stelle ein nicht unbegründetes Missfallen erregt haben würde.
Den Wenigen, die ernsthaft gelesen, über was sie schrieben, dankte ich im Stillen.
So schwieg ich auf alles. Nur ein einziges Mal schloss ich klatschend einen schamlosen Mund, der die ungeheuerliche Lüge gegen mich anwandte, zu sagen, die revolutionären Kommunisten seien von mir als Räuber und Mörder geschildert worden, während dieses ganze Buch nur ein einziger Protest gegen den gesetzmäßigen Diebstahl, den privilegierten Raub und den sanktionierten Mord des Staates ist. Dass ich heute – angesichts so vieler starrender Bajonette und Säbel – mehr als je von der völligen Aussichtslosigkeit eines gewaltsam geführten Kampfes für die Sache der Arbeit überzeugt bin, bekenne ich ebenso ungescheut, wie die stets neue Freude, welche ich empfinde, wenn ich höre, dass es meinen Worten gelungen ist, den Einen oder Anderen vor unbesonnenem Vorgehen bewahrt, d. h. den Klauen der Gewalt, der Verfolgung und dem Gefängnis entrissen und für die Taktik des passiven Widerstandes – den siegreichen Kampf einer hoffentlich nicht mehr so fernen Zukunft – gewonnen zu haben. Wie berechtigt diese Frage ist, wird mir dann am Meisten klar, wenn ich sehe, wie unausgesetzt weiter vom sicheren Auslande her durch ebenso unsinnige und törichte, wie zwecklose und feige Handlungen Sicherheit und Leben der „Genossen“ aufs Spiel gesetzt wird.
Die Volksausgabe der „Anarchisten“ ist unverändert geblieben. Bei einer Stelle empfand ich indessen die Verpflichtung, nicht sie zu ändern, sondern sie so durch einige ergänzende Zeilen zu erklären, dass sie hinfort keinem Missverständnis, welches einige Male glaubte sich als Beschuldigung gebärden zu dürfen, mehr ausgesetzt ist.
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Ich habe auf die von vielen Seiten an mich gerichtete Frage zu antworten: Warum ich, um meinen Ideen eine weitere Verbreitung zu geben, nicht agitiere, nicht propagiere, nicht in den Versammlungen spreche und diskutiere, und vor allem, weshalb ich nicht auf dem einzigen Wege, auf dem die Mehrzahl der Menschen heute allem noch erreichbar ist, dem der Presse, zu ihnen gehe.
Ich erwidere darauf: Weil ich es nicht kann; weil ich es nicht könnte, auch wenn ich es wollte. Die Gaben der Menschen sind verschieden. Ich bin ein Künstler, vielleicht nicht „durch und durch“, denn mein Interesse gehört vielem im Leben, doch so manches lastet auf mir, von dem ich mich, ich fühle es, nur befreien kann in dichterischem Schaffen. Die Herausgabe und Leitung einer Zeitung aber würde mich töten, und ein Hervordrängen meiner Person in den lauten, rohen Kampf des Tages und seiner Meinungen wäre mir vollends unmöglich.
Man erwarte also nichts von mir, als „von Zeit zu Zeit ein Buch“. Vielleicht, dass ich die hier begonnene Arbeit direkt wieder aufnehme; aber so lange die großen, klaren Grundlinien der Weltanschauung des Anarchismus noch so wenig begriffen worden sind, solange der Boden, auf dem sie sich aufbaut, ein noch so unbetretener ist, so lange noch immer wieder anzukämpfen ist gegen das völlige und in seiner Allgemeinheit beispiellose Missverstehen des Wortes allein, so lange drängt mich nichts zu umfassenderen und begründeteren Darlegungen.
Möge daher vorerst dies Werk noch einmal seine ungeschwächte Kraft erproben und das Bollwerk der Voreingenommenheit von neuem berennen, immer dieselbe Stelle, bis ein Weg sich öffnet.
Ich habe meine letzte Lanze für die Freiheit noch nicht gebrochen. Aber die Wahl meiner Lanzen, ich muss sie mir immer vorbehalten.
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Das letzte Wort den Freunden der Freiheit: meinen bekannten, meinen unbekannten Freunden...
Alles, sie mögen davon überzeugt sein, wird auch hier getan werden, wenn die Zeit dazu gekommen ist: mit den rechten Männern werden sich auch die rechten Wege, und dann auch die Mittel, sie zu beschreiten, finden. Nach dem so glänzend gegebenen Beispiel meines großen amerikanischen Freundes, dessen Sein und Wirken allein schon genügen müsste, um keinen Augenblick die Hoffnung sinken zu lassen, wird sich auch hier eine Propaganda entfalten, gewiss aus kleinen Anfängen heraus, aber unternommen und ins Werk gesetzt mit jener aus Wissen, Erkenntnis, Überlegung, Entschlossenheit, Zähigkeit und Mut geborenen Überlegenheit, welche zwar gelangweilt und ermüdet, nicht aber entmutigt und beirrt werden kann, da sie nicht zu reden, sondern einzig und allein zu zeugen bestrebt ist.
Dann wird dieses Buch ein Anfang gewesen sein... Das wünscht keiner heißer, als ich.
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Nur der versteht die Freiheit, welcher sie liebt. Wer sie aber – und das ist alle Zukunft – liebt als die Notwendigkeit seines Lebens, der muss sie auch, durch alle Irrtümer hindurch, verstehen lernen...
Aus dem Wirrwarr und dem Widerstreit der Meinungen hebt sich klar, verständlich, siegreich allein am Ende unseres Jahrhunderts die Lehre von der Souveränität des Individuums.
Wer wagt es zu leugnen, dass sie das Ziel aller menschlichen Entwicklung ist?
Barbarei und Knechtschaft vergangener Zeiten haben uns endlich zu der Erkenntnis gebracht, dass Kultur und Zivilisation erst in jenem Zustand der Gesellschaft ihre höchsten Triumph zu feiern im Stande sind, in welchem mit dem letzten Vorrecht auch die Gewalt, die es schützte, der Staat, geschwunden ist: dem Zustande gleicher Freiheit, wo ein verfeinerter und höchstgesteigerter Egoismus auch den letzten gelehrt hat, dass seine Freiheit wächst und abnimmt mit der Freiheit des Anderen, dass er in demselben Maße unabhängiger wird, als er seinem Nächsten erlaubt, unabhängig von ihm zu sein.
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Vergebens werden wir weiter versuchen, uns den letzten Konsequenzen zu entziehen, zu denen die Logik des Denkens uns mit unfehlbarer Sicherheit und unaufhaltsamer Kraft treibt.
Denn wir dürsten nach Glück, dem Glück auf Erden. Und nicht eher – den trüben Fanatikern des Kommunismus, wie den schwankenden Machthabern der Gewalt gleich zum Trotz – werden wir ruhen, bis wir uns dieses Glück, welches die Freiheit ist, errungen haben.
Berlin, im Frühjahr 1893
John Henry Mackay
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Erstes Kapitel – Im Herzen der Weltstadt
Erstes Kapitel – Im Herzen der Weltstadt
Über London hin begann sich ein nasskalter Oktoberabend zu breiten. Es war der Oktober desselben Jahres, in welchem noch nicht fünf Monate vorher jene albernen Feierlichkeiten der fünfzigjährigen Regierungszeit einer Frau, welche sich „Königin von Großbritannien und Irland und Kaiserin von Indien“ nennen ließ, in Szene gesetzt waren, nach denen das Jahr 1887 „Jubilee Year“ genannt wurde.
Königin Victoria – 1819 – 1901
An diesem Abend – es war der letzte einer Woche – suchte sich durch wirre, enge und fast leere Gassen ein Mann aus der Richtung von Waterloo Station her nach der Eisenbahnbrücke von Charing Cross seinen Weg. Als er langsam, wie ermüdet von einem stundenweiten Gange, die Holztreppe, welche zu einem schmalen, neben den Schienen sich hinziehenden Fußgängerpfad der Brücke führt, hinaufgestiegen