John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski. John Henry Mackay

John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski - John Henry Mackay


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murmelte er. In der nächsten Minute hatte sich die Menge zerstreut und das kleine Paar sich zur nächsten Straßenecke durchgedrängt, dort Spiel und Tanz von Neuem zu beginnen, bis der Policeman sie forttrieb, der gehasste, der gefürchtete.

      * * *

       Auban durchschritt den Tunnel, dessen Steinboden von Schmutz übersät war und aus dessen Ecken eine verpestete Luft aufstieg. Er war fast leer; nur hin und wieder schlich eine unerkennbare Gestalt an den Wänden hin und an ihm vor. Aber Auban wusste, dass an nasskalten Tagen und Nächten hier, so gut wie an Hunderten anderer Durchgänge, ganze Reihen von Unglücklichen lagen, dicht aneinander und gegen die kalten Wände gepresst, und immer gewärtig, im nächsten Augenblick von dem „Arm des Gesetzes“ auseinander getrieben zu werden: Haufen von Kot und Lumpen, verkommen in Hunger und Schmutz, die „Parias der Gesellschaft“, die in Wahrheit Willenlosen... Und während er die Stufen am Ende des düsteren Ganges emporstieg, stand vor ihm plötzlich wieder jene Szene, welche er vor nun etwa einem Jahre an diesem selben Orte erlebt hatte, mit einer so erschreckenden Deutlichkeit, dass er unwillkürlich stehen blieb und sich umsah, als müsse sie sich leibhaftig vor seinen Augen wiederholen – :

      Es war an einem feuchtkalten Abend, gegen Mitternacht, die Stadt in Nebel und Rauch wie in einen undurchsichtigen Schleier gehüllt. Er war hierhergegangen, um Einzelnen der Obdachlosen die wenigen Kupferstücke zu geben, welche sie brauchten, um die Nacht in einem der Lodging-Häuser, statt in der eisigen Kälte der Nacht, zu verbringen. Als er diese Stufen niedergeschritten war – der Tunnel war füllt mit Menschen, die, nachdem sie alle Stadien des Elends durchgemacht hatten, am letzten angelangt waren – sah er vor sich ein Gesicht auftauchen, welches er nie wieder vergessen hatte: die von Aussatz und blutigen Geschwüren entsetzlich entstellten Züge eines Weibes, welches – an der Brust einen Säugling – ein etwa vierzehnjähriges Mädchen an der Hand nach sich mehr schleppte als zog, während ein drittes Kind, ein Junge, sich an ihren Rock anklammerte.

      – Zwei Schilling nur, Gentleman – zwei Schilling nur. Er war stehen geblieben, um sie zu fragen.

      – Zwei Schilling nur – sie ist noch so jung, aber sie wird alles tun, was Sie wollen... und dabei zog sie das Mädchen näher, welches sich zitternd und weinend abwendete.

      Ein Schauder lief ihn. Aber die flehende und wimmernde Stimme des Weibes ertönte weiter.

       – Bitte, nehmen Sie sie doch mit. Wenn Sie es nicht tun, so müssen wir draußen schlafen – nur zwei Schilling, Gentleman, nur zwei Schilling, sehen Sie nur, sie ist so hübsch ... Und wieder riss sie das Kind an sich.

      Auban fühlte, wie das Entsetzen ihn schlich. Er wandte sich, unbewusst und unfähig, ein Wort hervorzubringen, zum Gehen.

      Aber er hatte noch keinen Schritt getan, als sich das Weib plötzlich schreiend vor ihn auf den Boden hinwarf, das Mädchen losriss und sich an ihn anklammerte.

      – Gehen Sie nicht fort! Gehen Sie nicht fort! schrie sie in entsetzlicher Verzweiflung. – Wenn Sie es nicht tun, so müssen wir verhungern – nehmen Sie sie mit – hierher kommt sonst niemand mehr, und auf den Strand dürfen wir nicht – tun Sie es doch – tun Sie es doch!

      Aber, als er sich, ohne es zu wollen, umsah, sprang die vor ihm Liegende plötzlich auf.

      – Rufen Sie keinen Policeman! Nein, rufen Sie keinen Policeman! rief sie ängstlich-schnell. Da, als sie aufstand, gewann Auban seine Ruhe wieder. Er griff wortlos in die Tasche und reichte ihr hin, was er an Geld erfasste.

      Das Weib stieß einen Freudenschrei aus. Wieder nahm sie das Mädchen am Arm und stellte es vor ihn hin.

      – Sie wird mit Ihnen gehen, Gentleman, – sie wird alles tun, was Sie wollen... fügte sie flüsternd hinzu. Auban wandte sich ab und ging so schnell wie möglich durch die Reihen der Schlafenden und Betrunkenen dem Ausgange zu; keiner hatte der Scene geachtet.

      Als er am Strand war, fühlte er, wie sein Herz jagte und seine Hände zitterten.

      Acht Tage nach diesem suchte er Abend für Abend in dem Tunnel von Charing Cross und seiner Umgebung nach dem Weibe und den Kindern, ohne sie wieder finden zu können. Es hatte etwas in den Augen des Mädchens gelegen, das ihn beunruhigte. Aber der Augenblick war zu kurz gewesen, als dass er hätte erkennen können, was dieser Abgrund von Furcht und Elend verbarg...

       Dann vergaß er dem ungeheuren Jammer, welcher sich ihm täglich zeigte, diese eine Szene, und täglich sah er wieder auf den Straßen die Kinder der Armut – Kinder von dreizehn und vierzehn Jahren – sich darbieten – und war unfähig, zu helfen!

      Wer war bemitleidenswerter, die Mutter oder die Kinder? Wie groß musste das Elend sein, wie entsetzlich die Verzweiflung, wie wahnsinnig der Hunger der beiden? Aber mit Abscheu spricht die Frau der Bourgeoisie von dem „Scheusal von Mutter“ und von dem „verkommenen Kinde“ – die Pharisäerin, welche unter der Hand desselben Elends genau denselben Weg gehen würde. – –

      Mitleid! Jämmerlichste unserer Lügen! Unsere Zeit kennt nur Ungerechtigkeit. Es ist heute das größte Verbrechen, arm zu sein. Gut so. Umso schneller muss die Erkenntnis kommen, dass die einzige Rettung darin besteht, dieses Verbrechen zu unterlassen.

      Die Wahnsinnigen, murmelte Auban vor sich hin, – die Wahnsinnigen – sie sehen alle nicht, wohin Mitleid und Liebe uns gebracht haben –. Seine Augen waren umschattet, wie von der Erinnerung an die Kämpfe, welche diese Erkenntnis ihm auferlegt hatte.

      Wie deutlich er heute Abend beim Durchschreiten des Tunnels wieder die wimmernde, verzweifelte Stimme des Weibes und ihr drängendes: „Do it! do it!“ zu hören glaubte! Und aus dem trüben Dunkel tauchten wieder die scheuen, krankhaften Augen des Kindes auf.

      * * *

       Er kehrte um und durchschritt abermals den Tunnel. Bevor er sich jedoch dem Strand zuwandte, bog er in eine der Seitenstraßen ein, welche sich nach der Themse hinunterziehen. Er kannte sie alle – diese Gassen, diese Winkel, diese Ein- und Durchgänge: Hier war der nüchtern-graue Hinterbau des Theaters, dessen Frontseite den Strand mit Licht schwemmte; und jenes schmale, dreistöckige Haus mit den blinden Fenstern war eines jener berüchtigten Absteigequartiere, hinter deren Mauern sich allmählich Szenen der Verworfenheit abspielen, welche sich auch die sinnlich entartetste Phantasie nicht auszumalen wagt. Hier wohnte noch das Elend, und in jener nächsten, stillen Straße schon der Wohlstand – und so wirrten sich beide durcheinander bis zu der kleinen Kirche von Savoy inmitten ihrer kahlen Bäume und bis zu den vornehmen, verschlossenen Bauten des Temple mit seinen herrlichen Gärten...

      Auban kannte Alles: sogar den ewig-leeren, breiten, gewölbten Gang, der unter den Straßen durch nach den Embankments führt und von dessen verlassener, geheimnisvoller Stille aus das Leben des Strand sich anhört wie das ferne Rauschen einer immer letzten und immer ersten Welle auf ödem Sand-Ufer...

      Die Kälte wurde mit der vorgerückten Stunde empfindlicher und sickerte in der nebeligen Feuchtigkeit Londons nieder. Auban begann müde zu werden und wollte nach Hause. Er bog zum Strand ab.

      Der „Strand!“ West-End und City verbindend lag er vor ihm da, erhellt von den ungezählten Lichtern seiner Läden, durchrauscht von einer nie stockenden und nie endenden Menschenflut; zwei geteilte Ströme, der eine hinauf nach St. Pauls, der andere hinunter wogend nach Charing Cross. Zwischen beiden der betäubende Wirrwarr eines ununterbrochenen Verkehrs von Wagen: ein Bus, schwerfällig, besät mit bunten Reklamen, beladen mit Menschen, hinter dem anderen; ein Hansom, leicht, behänd auf seinen Zweirädern dahinhuschend, hinter dem anderen; dröhnende Lastwagen; tote, geschlossene Postwagen der Royal Mail; starke, breite Forewheelers; und dazwischen sich durchwindend, in der dunklen Masse kaum erkennbar, dahinsausende Bycicles...

       Das East-End ist die Arbeit und die Armut, aneinander gekettet durch den Fluch unserer Zeit: die Knechtschaft; die City ist der Wucherer, der die Arbeit verkauft und den Gewinn einzieht; das West End ist der vornehme Nichtstuer, der sie verbraucht. Der Strand ist eine der schwellendsten Adern, durch welche das geldgewordene Blut rinnt; er ist der Rivale von Oxford Street, und sträubt sich dagegen, von ihr besiegt zu werden. Er ist das Herz von London. Er trägt einen Namen, den die Welt kennt. Er ist eine der wenigen Straßen,


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