John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski. John Henry Mackay
aus den Händen gab, welche sich sehnsüchtig und vertrauend um den Nacken der Liebe schmiegten.
– In fünfzehn Jahren, so brach jetzt wieder lodernd die Flamme der Hoffnung aus seinen Worten, – kann viel geschehen! –
Auban antwortete nicht mehr. Er war machtlos diesem Glauben gegenüber. Langsam gingen sie weiter. Die Straßen wurden leerer und stiller. Es lag noch immer dieselbe brütende Feuchtigkeit in der undurchsichtbarer werdenden Luft, wie vor drei Stunden. Der Himmel war eine nebelgraue Wolkenmasse. Die Laternen brannten unstet-flackernd. Zwischen den beiden Männern lag das Schweigen der Entfremdung.
* * *
Sie waren auch äußerlich sehr verschieden.
Auban war größer und hagerer, Trupp muskulöser und proportionierter. Dieser trug einen kurzen, braunen Vollbart, während jener stets mit peinlicher Sorgfalt rasiert war.
Waren sie allein, so sprachen sie stets, wie auch an diesem Abend, französisch miteinander, welches Trupp ohne Mühe, wenn auch nicht ganz korrekt, Auban aber so schnell sprach, dass selbst seine Landsleute oft Mühe hatten, ihm zu folgen. Seine Stimme hatte einen seltsamen Klang von Härte, der zuweilen der Wärme seiner Lebhaftigkeit, öfter aber noch einer feinen Ironie wich. –
Vor ihnen begann das Gewirr der kleinen und engen Gassen sich zu lichten. Sie stiegen einige Stufen hinauf. Da lag Oxford Street!
– In fünfzehn Jahren, brach Auban das Schweigen, – haben die Ketten der Knechtschaft in den Ländern des Kontinents die Handgelenke der Völker fast durchschnitten, so dass sie sich zum Schlag nicht mehr heben können. Hier werden dieselben Hände in gleicher Zeit gefesselt sein, wie der Mund, der jetzt noch protestiert und sich müde redet.
– Ich kenne die Arbeiter besser als du. Bis dahin werden sie sich längst erhoben haben. – Um mit Kanonen, die selbsttätig in jeder Sekunde einen, und in einer Minute sechzig Schüsse abgeben, niedergemäht zu werden. Ja. Ich kenne die Bourgeoisie besser und ihre Leute.
Sie standen in Oxford Street: in nächtigem Licht und Leben.
– Da sieh hin – glaubst du, dies Leben – fällt mit einem Schlag und durch Einzelner Willen?
– Ja, sagte Trupp und zeigte nach Osten. – Dort liegt die Zukunft. Aber Auban fragte:
– Was ist die Zukunft? Die Zukunft ist der Sozialismus. Die Tötung des Individuums in immer engeren Grenzen. Die gänzliche Unselbständigkeit. Die große Familie. – Lauter Kinder, Kinder... Aber auch das muss durchgemacht werden.
Er lachte bitter und indem er dem Blick seines Freundes folgte: „Dort liegt – Russland!“ Dann schwiegen beide wieder.
Oxford Street dehnte sich aus – eine unsichtbare Linie von verschwimmendem Licht und brausendem Dunkel hinauf und hinunter.
– Es gibt drei London, sagte Auban, gepackt von dem Leben, – drei: London am Samstagabend, wenn es sich betrinkt, um die folgende Woche zu vergessen; London am Sonntag, wenn es seinen Rausch im Schoß der allein seligmachenden Kirche ausschläft; und London, wenn es arbeitet und arbeiten lässt – an den langen, langen Tagen der Woche.
– Ich hasse diese Stadt, sagte der andere.
– Ich liebe sie! sagte Auban leidenschaftlich.
– Wie anders war Paris!
Und die gemeinsamen Erinnerungen tauchten auf.
Aber Auban drängte vorwärts.
– Wir kommen nie zum Klub.
Sie schritten geradeswegs Oxford Street und gingen die nächste Querstraße nach Norden hinauf. Auban stützte sich wieder stark auf den Arm seines Freundes.
– Aber sage jetzt, wie geht es euch?
– Es geht ganz gut, trotzdem wir immer noch keinen „Vorstand“ haben. Erinnerst du dich noch, welcher Lärm sich erhob, als wir seinerzeit den Klub ganz nach kommunistischem Prinzip einrichteten: ohne Vorstand, ohne Beamten, ohne Statuten, ohne Programm und ohne festgesetzte Zwangsbeiträge? Völliger Untergang in Unordnung wurde uns prophezeit und sonst noch alles Mögliche. Aber wir kommen immer noch ganz gut zurecht und in unseren Verhandlungen geht es ganz so zu wie in anderen, wo die Glocke des Präsidenten regiert – es redet immer einer nach dem anderen, wenn er etwas zu sagen hat.
Auban lächelte.
– Ja, sagte er, – das können die Ordnungsschreier nicht verstehen, wie vernünftige Menschen zusammenkommen und zusammenbleiben können, um sich ihre gemeinsamen Interessen zu besprechen, ohne dass der Einzelne seine Zugehörigkeit in Rechten und Pflichten auf einem Wisch garantiert erhält. – Aber daraus, dass dieser Versuch nicht misslungen ist, seht ihr doch noch keinen Beweis für die Möglichkeit der Konstituierung der ganzen menschlichen Gesellschaft auf gleichen Grundlagen? Das wäre doch heller Wahnsinn.
– So, das wäre heller Wahnsinn? Wir finden das nicht. Wir hegen diese Hoffnung, beteuerte Trupp hartnäckig.
Auban fiel ein: „Was macht euer Blatt?“
– Es geht langsam. Liest du es?
– Ja. Aber doch nur selten. Ich habe das wenige Deutsch verlernt, das ich auf der Straße hörte.
– Wir redigieren es auch zusammen. Ohne Kommission, ohne Redakteur. An einem Abend der Woche kommen zusammen, die Lust und Zeit haben, und das Eingelaufene wird verlesen, besprochen und zusammengestellt.
– Deshalb ist der Inhalt aber auch so merkwürdig verschieden und uneinheitlich. Nein, hinter einem Blatte muss eine Persönlichkeit stehen, eine volle, interessante Persönlichkeit –
Trupp unterbrach ihn ungestüm.
– Ja, und dann hätten wir wieder das ‚Führertum’. Aus einem Verwalter wird immer ein Regierer – er sah nicht das beistimmende Nicken Aubans – hier im Kleinen, dort im Großen! Unsere ganze Bewegung hat darunter furchtbar gelitten, unter diesem Zentralismus. Wo im Anfang reine Begeisterung war, ist sie in Selbstgefälligkeit aufgegangen; wirkliches Mitgefühl und Liebe in dem Streben, selbst die Retter zu spielen. So haben wir denn all schon oben und unten, die Herde und den Leithammel, auf der einen Seite den Dünkel, auf der anderen Seite gedankenlose und fanatische Nachbeterei der Parteilehren –.
– Aber du hast mich in der Tat völlig missverstanden. Als ob ich je etwas anderes geglaubt hätte! Ich misstraue überhaupt einem jeden, der sich anmaßt, andere vertreten, für andere sorgen und die Verantwortung für anderer Angelegenheiten auf seine eigenen Schultern nehmen zu wollen. Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten und lass mich für die meinen sorgen – das ist ein gutes Wort. Und wirklich Anarchismus.
– Ich bin auch Anarchist.
– Nein, mein Freund, das bist du nicht. Du vertrittst in jeder Beziehung das Gegenteil der wirklich anarchistischen Ideen. Du bist durch und durch Kommunist, nicht nur deinen Ansichten, sondern deinem ganzen Empfinden und Wünschen nach.
– Wer will mir das Recht bestreiten, meine Ansichten anarchistisch zu nennen?
– Niemand. Aber ihr bedenkt nicht, welche unheilvolle Verwirrung entsteht durch das Zusammenwerfen so völlig verschiedener Begriffe. Indessen, warum jetzt über die alte Frage streiten! Komm' am Sonntag. Wir können wieder einmal diskutieren. Weshalb nicht?
– Meinetwegen. Du bist und bleibst ja doch der Individualist, zu dem du geworden bist, seitdem du die soziale Frage ‚wissenschaftlich’ studiert hast! Ich wollte, du wärest noch derselbe, der du warst, als ich dich sah in Paris, mein Lieber!
– Nein, ich nicht, Otto! sagte Auban und lachte laut auf.
Trupp war gereizt.
– Du weißt nicht, was du verteidigst! Ist der Individualismus etwa nicht die Entfesselung aller schmutzigen Leidenschaften des Menschen, des Egoismus vor allem, und hat er nicht all' dies Elend geschaffen, – die Freiheit auf der einen – …
Auban blieb stehen und sah den Sprechenden an. – Heute Freiheit