John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski. John Henry Mackay

John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski - John Henry Mackay


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für die Autoritäten gegeben ist, eine Menge durch Gefährdung ihres Lebens zum Widerstand zu reizen. Wir erwarten von unsern amerikanischen Kameraden, seien auch ihre politischen Ansichten noch so verschieden, dass sie die unbedingte Freilassung der sieben Männer, in deren Personen die Freiheiten aller Arbeiter jetzt gefährdet sind, verlangen ...“

      * * *

      Als Auban geendet hatte, sah er neben sich einen alten Herrn mit langem, weißen Bart und freundlichen Gesichtszügen.

      – Mr. Marell, rief er sichtlich erfreut, – Sie sind wieder hier? Welche Überraschung!

      Sie schüttelten sich herzlich die Hände.

      – Ich wollte Sie nicht stören – Sie lasen.

      Sie sprachen englisch zusammen.

      – Wie lange sind Sie wieder hier?

      – Seit gestern.

      – Und waren Sie in Chicago?

       – Ja, vierzehn Tage; dann in New-York. – Ich hatte Sie nicht erwartet –

      – Ich konnte es nicht mehr ertragen, so kam ich wieder.

      – Sie sahen die Verurteilten?

      – Gewiss, oft.

      Auban beugte sich zu ihm und fragte leise:

      – Es ist keine Hoffnung? Der Alte schüttelte den Kopf.

      – Keine. Die letzte liegt beim Gouverneur von Illinois, aber ich glaube nicht an ihn.

      Leise sprachen sie weiter.

      – Wie ist die Stimmung?

      – Die Stimmung ist gedrückt. Die Knights of Labour und die Georgianer halten sich zurück. – Es ist überhaupt manches anders, wie man es sich hier vorstellt. Die Aufregung ist stellenweise groß, aber die Zeit ist noch nicht reif.

      – Man wird alles versuchen –

      – Ich weiß nicht. Jedenfalls wird alles unmöglich sein ... Sie schwiegen Beide. Auban sah noch ernster aus, als gewöhnlich.

      Aber was für ein Gefühl es war, welches seine Seele beherrschte, war auch jetzt nicht zu erkennen.

      – Wie sind die Verurteilten?

      – Sehr ruhig. Einige wollen keine Begnadigung, und sie werden in diesem Sinne sich aussprechen. Aber ich fürchte, die anderen hoffen immer noch –

      Es war nach acht Uhr. Die Versammlung begann ungeduldig zu werden; die Stimmen wurden lauter.

      Auban fragte weiter, und der Alte antwortete mit seiner ruhigen, traurigen Stimme.

      – Sie werden sprechen, Mr. Marell?

      – Nein, mein Freund. Es ist ein anderer, jüngerer da, er kommt auch von Chicago, und er will einiges von dort erzählen.

      – Sind Sie morgen zu Hause?

       – Ja, kommen Sie. Ich werde Ihnen die Verhandlungen geben und die neuesten Zeitungen. Ich habe viel mitgebracht. Alles, was ich auftreiben konnte. Viel. Sie werden, wenn Sie alles lesen wollten, ein gutes Bild unserer amerikanischen Zustände bekommen.

      – Ein neuer Prozess wird nicht bewilligt werden?

      – Hoffentlich nicht. Es würde ja nichts nützen, die Qual, die so schon unerträglich ist, würde nutzlos verlängert werden, es müssten neue, ungemessene Mittel vom Volke aufgebracht werden – noch einmal 50.000 Dollar, aus Arbeiterpfennigen zusammengehäuft – und wozu? – nein, die Hyäne will Blut –

      – Und das Volk?

      – Das Volk weiß selbst nicht, was es will. Einstweilen glaubt es noch nicht an den Ernst der Sache, und wenn der Elfte da ist, ist es zu spät!

      In ihr Gespräch mischte sich ein junger Engländer, der Marell von der Socialist League her kannte. Auban sah auf. Jener sagte finster:

       – Nein, ich glaube noch immer nicht daran. Man mordet am Ende des neunzehnten Jahrhunderts im Angesicht der Völker öffentlich nicht sieben Menschen, deren Unschuld so klar erwiesen wie der Tag ist; man schlachtet Tausende und Abertausende hin, aber man hat nicht mehr den Mut, in einem Lande mit den Institutionen der Staaten so nur auf die Gewalt zu pochen und die Gesetze zu verhöhnen. Nein, sie tun es deshalb nicht, weil es von ihrem Standpunkt aus ein Wahnsinn wäre, das Volk auf solche Weise aufzuklären und aufzurütteln. Nein, sie werden es nicht wagen! Sehen Sie hin, hier allein diese vielen und so täglich in allen freieren Ländern, hier und drüben, diese Versammlungen, diese Zeitungen, diese Flut von Flugschriften! Wo ist der Mensch, der noch Vernunft und Herz hat und sich nicht empört – sind die Scharen zu zählen, die drüben sich erheben? Ihr Wille sollte nicht stark genug sein, um jenen erkauften Schurken Furcht einzujagen, dass sie abstehen von ihrer Freveltat? Nein, sie werden es nicht wagen, Comrade! Es wäre ihr eigenes Verderben! Die beiden, zu denen er sprach, zuckten die Achseln. Was sollten sie ihm antworten? –

      Sie hatten beide in dem Kampfe der beiden Klassen so viele Scheußlichkeiten von denen begehen sehen, welche die Gewalt in Händen haben, dass sie sich fragen mussten, was es sein würde, das sie noch in Erstaunen und Entrüstung zu setzen vermochte. –

      Auban sah, wie die Hände des Alten zitterten, in denen er einen grauen, abgetragenen Hut hielt, und wie er dieses leichte Zittern, in welchem sich seine ganze innere Erregung kundgab, dadurch zu verbergen suchte, dass er nachlässig mit ihm spielte.

      – Sie glauben, den Anarchismus ins Herz zu treffen, wenn sie einige seiner Vertreter hängen, sagte er nun. Auban merkte, dass er jetzt nicht näher auf das Gespräch eingehen wollte, und schwieg.

      Aber er dachte weiter: „Was ist Anarchismus?“ – Die in Chicago Verurteilten? – Ihre Ansichten waren teils sozialdemokratisch, teils kommunistisch, nicht zwei hätten auf irgendeine ihnen vorgelegte und die Grundideen betreffende Frage gleichlautend geantwortet – und doch nannten sich alle und wurden alle „Anarchisten“ genannt; aber wann hatte der Individualismus trotziger gesprochen als aus den Worten jenes jungen Kommunisten, welcher seinen „Richtern“ zugedonnert hatte: „Ich verachte euch, ich verachte eure Gesetze, eure ‚Ordnung’, ‚eure Gewaltherrschaft’ – und: „Ich bleibe dabei: wenn man uns mit Kanonen bedroht, werden wir mit Dynamitbomben antworten“ –?

      Und weiter der Greis, der neben ihm saß! Auch er nannte sich „Anarchist“ ... Und was predigte er immer und immer wieder in seinen zahllosen Flugschriften? Die Liebe.

       – „Was ist Anarchie?“ – fragte er. Und antwortete: „Es ist ein Gesellschaftssystem, in welchem keiner die Handlungen seines Nachbarn stört; wo Freiheit frei von Gesetz ist; wo Vorrecht nicht existiert; wo Gewalt nicht der Ordner menschlicher Handlungen ist. – Das Ideal ist das zweitausend Jahre früher von dem Nazarener verkündete: die allgemeine Brüderlichkeit der ganzen menschlichen Familie“. – Und schmerzlich rief er immer wieder aus: „Rache ist die Lehre, gepredigt von der Kanzel, von der Presse, von allen Klassen der Gesellschaft! – Nein, Liebe! Liebe! Liebe! predigt! ...“

      Auban, welcher sich an diese Worte erinnerte, dachte daran, wie gefährlich es doch war, so allgemein, so verschwommen, so obenhin zu denen zu sprechen, die noch so wenig verstanden, den Sinn und den Wert der Worte zu prüfen. So ballte sich mehr und mehr das Unvereinbare und das Fremde zu einem Knäuel zusammen, vor dessen Lösung viele zurückschreckten, die sonst gerne den einzelnen Fäden nachgegangen wären ...

      Auban hatte den alten Herrn erst vor kurzem kennen gelernt. Es war auf einer Debatte gewesen, in welcher die Unterschiede des individualistischen und des kommunistischen Anarchismus disputiert wurde. Mr. Marell war der Einzige gewesen, welcher – wie er selbst glaubte – den Ersteren vertrat. Seine Darlegungen hatten Auban interessiert. Er hatte in ihnen trotz ihrer Inkonsequenz manches seinen eigenen Ergebnissen Verwandte gefunden. So waren sie miteinander bekannt geworden und hatten sich einige Male gesehen, bevor jener nach Amerika zurückkehrte, um dort, wie er sagte, noch zu tun, was in seinen Kräften stand. Da er sich nie klar aussprach, wusste Auban nicht, welcher Art diese Bemühungen sein sollten, und nach dem, was er heute Abend


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