John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski. John Henry Mackay
an ihre Gerechtigkeit und an ihre Größe. In demselben Moment, in dem er geendet, hatte er schon den Platz verlassen, als wolle er sich dem neu ausbrechenden Beifall entziehen, und saß im nächsten wieder ernst und bleich unter den Zuhörern, gespannt mit ihnen die Worte seines Nachredners verfolgend, der – als Delegierter eines großen Londoner liberalen Klubs – darauf aufmerksam machte, dass jene Ereignisse, welche heute drüben geschehen, morgen schon hier im eigenen Lande sich ereignen könnten ...
Auban vernahm nicht mehr, was dieser und jeder der noch nachfolgenden Redner sagte. Er war in Gedanken versunken. Noch immer saß er so unbeweglich wie vor einer Stunde da, die Füße den vorgestreckten Stock gekreuzt, die Hände auf seinen Griff gestemmt, und starrte vor sich hin. Die Stimmen der Redner, das Gemurmel wie das Beifalls-Rufen und -Klatschen der Menge – das alles klang wie aus einer weit abliegenden Ferne zu ihm her. Er war oft in den letzten Tagen – beim Durchwandern brausender Straßen – von diesem Gefühl der Abwesenheit überwältigt worden: Dann dachte er an jene Tage, in welchen die Menschheit aufatmend einmal wieder sich befreit hatte von einem ihrer Tyrannen, und an die Tage, in welchen dessen wertloses und Fluch-beladenes Leben gerächt wurde an vielen unschätzbar-teuren. Und er dachte an die Heldengestalten jener Märtyrer, an ihre schweigenden Opfer und an ihr nur einem Gedanken geweihtes Leben. Er dachte an sie, so oft er einen von denen sah, auf deren Stirnen noch der Schatten jener Tage zu liegen schien. Aber nicht mehr vermochte es ihm alles groß und beneidenswert erscheinen, so zu leben und so zu sterben ... Verflüchtigt hatte sich jene Leidenschaftsglut, welche seine ganze Jugend verzehrt hatte und welche in Asche gelegt war unter den kalten Hauchen des Verstandes, der unaufhörlich und rastlos alle unsere wirren Gefühle bekämpft, bis er uns mit dem Glauben an die Gerechtigkeit auch den letzten genommen hat, und nun selbst – als der einzig berechtigte – Leiter und Lenker unseres Lebens geworden ist.
Zuviel Blut hatte er fließen sehen, als dass er nicht gewünscht hätte, die Erfolge des Friedens endlich zu erblicken. Aber wie war das möglich, wenn das Ziel immer verschwommener, die Wünsche immer unmöglicher und die Leidenschaften immer mehr entfesselt wurden?! –
Wieder sollten sich jene Tage, an welche er dachte, nun in Wirklichkeit wiederholen! Wieder das Blut der Unschuldigen in Strömen fließen, um die ungezählten Verbrechen, begangen von der Macht an der Schwachheit, der Willenlosigkeit, der Einsichtslosigkeit, zu verbergen! Was wollten doch alle diese Menschen, die hier so begeistert schienen, so zeugende Worte der Wahrheit fanden? Protestieren? Wann hatte sich das privilegierte Unrecht, welches die Macht der Gewalt sich kaufte, je um Proteste gekümmert? –
Warum unterlagen sie? Weil sie die Schwächeren waren. Aber was ist Schuld? Ist es nicht ebenso große Schuld, schwach zu sein, als stark zu sein, wenn es überhaupt eine Schuld gibt? Weshalb waren sie es nicht, als weil sie die Schwächeren waren?
Mit der grausamen Härte seiner durchdringenden Logik prüfte und sezierte er weiter. Der Schmerz, der hier so beredt aus allen Mienen und allen Worten sprach: zusehen zu müssen dem Verbrechen, war er nicht doch geringer, als der, den der Versuch, es tatsächlich zu verhindern, bereitet hätte? Weshalb sonst gaben sie sich Alle hier zufrieden, zu protestieren und nur zu protestieren?
Gewiss, sie hätten die Stärkeren sein können. Aber weshalb anders waren sie es nicht, als weil sie die Schwächeren waren?
Es war eine große Leere und Kälte in ihm nach der auflodernden Leidenschaft. Es war ihm, als schwebe er in einer eisigen Luftewigkeit ohne Raum und Grenze und versuche in der Angst des Todes sich an dem Haltlosen zu halten. – –
Der alte Herr, welcher neben ihm saß, sah in diesem Augenblick in Aubans Gesicht. Es war aschgrau und in seinen Augen loderte ein zusammensinkendes Feuer.
Auf der Empore trat unterdessen unermüdlich ein Redner nach dem anderen auf. Die Erregung schien noch im Wachsen zu sein, obwohl gewiss in dem ganzen weiten Saale nicht einer war, der nicht von ihr bereits ergriffen war, mit Ausnahme jener Reporter vielleicht, die geschäftsmäßig ihre Blätter mit Notizen füllten.
Auban hörte nichts mehr. Einmal hatte er sich halb erhoben, als habe er sich entschlossen, zu sprechen. Aber er hatte gesehen, dass die Reihe der Sprecher noch nicht erschöpft war, und er gab es auf, jenes Wort zu sagen, welches heute Abend nicht gesagt werden sollte. –
Nur einmal noch in der folgenden letzten Stunde schaute er auf. Der Name eines Mannes war genannt worden, den England in die Geschichte seiner Dichtkunst des neunzehnten Jahrhunderts längst neben die glänzendsten unverwischbar eingetragen hatte; den das Kunstgewerbe einen seiner Erneuerer und tätigsten Förderer nannte; und der endlich einer der gründlichsten Kenner und hervorragendsten Vertreter des englischen Sozialismus war. Dieser merkwürdige und einzige Mann – Dichter, Maler und Sozialist in einer Person und Meister in allen – hatte trotz seiner weißen Haare die Lebendigkeit und Frische eines Jünglings. Unvergesslich war noch immer für Auban einer seiner zahllosen Vorträge, die er heute in irgend einem der kleinen Klubsäle der Socialist League-Branchen in London vor Hunderten und morgen in Edinburgh oder Glasgow auf öffentlichen Versammlungen vor Tausenden hielt, geblieben: „The coming society“. Und nie hatte sich vor Aubans Augen verlockender und begehrlich-täuschender das Bild der „freien Gesellschaft“ hingestellt als unter dem Banne dieser Worte, denen der Dichter Zauber und Schönheit, der Künstler Plastik und Fülle und der Denker Beweiskraft und Überzeugung zu leihen suchte. „Wie schön es wäre, wenn es so sein könnte – wie ales aufgelöst wäre in Harmonie und Frieden –“ hatte er damals gedacht.
Ein alter Barde und Patriarch und doch wieder der natürlichste, gesündeste alte Engländer – der Self-made-man – in blauem, hemdlosem Kragen und bequemstem Anzuge stand er da und erzählte mehr, als er sprach, von den Tagen von Chicago.
Der Beifall, mit dem sein Kommen und Abtreten begrüßt wurde, gab Zeugnis von der Popularität dieses Mannes, dessen Lebendigkeit und Tatkraft für die Sache der sozialen Bewegung keine Ermüdung zu kennen schien. – Die zehnte Stunde war lange vor, als der Chairman sich erhob, um mit seiner klaren lauten Stimme die Resolution zu verlesen. Die Hände flogen in die Höhe – keine erhob sich bei der Gegenfrage –: die Resolution war einstimmig angenommen. Ein Kabeltelegramm wurde nach New York gesandt, wo am folgenden Tage aus demselben Anlass ein demonstratives Meeting stattfinden sollte – es brachte die Wünsche der hier Versammelten das Meer...
Dann begann der Saal sich langsam zu leeren. Die lebhaft sprechende, aufgeregte Menge schob sich allmählich durch die Türen ins Freie, die Reporter packten ihre Blätter zusammen, Einzelnes noch miteinander vergleichend, die Tribüne wurde leer. Nur jene Frau, welche zuerst gesprochen hatte, stand noch bei dem Chairman, die Atheistin und Kommunistin neben dem Priester der Kirche und christlich-sozialen Demokraten.
Wahrscheinlich ließ sie sich noch einige Namen und Notizen für ihr kleines, allmonatlich in vierseitiger Stärke erscheinendes Blatt geben. Als Auban jene beiden sah, dachte er, wie innerlich sich ihre Anschauungen berührten und wie es doch nur Scheinwände waren, was sie zwischen sich sahen. Und ferner: wie unvereinbar schroff er selbst gerade dem, was jene verband, gegenüberstand.
Nachdem er sich herzlich von dem alten Herrn, der noch von dem jungen Amerikaner zurückgehalten wurde, verabschiedet hatte, ging er langsam und allein hinaus.
* * *
An der Tür standen noch die Genossen mit ihren Blättern, deren Namen sie riefen.
Auban erkannte einen unter ihnen, welcher der „Autonomie“ angehörte, einen jungen Mann mit blondem Bart und freundlichen Zügen. Er fragte ihn nach Trupp und erhielt die Bestätigung, dass er nicht dagewesen war. – Als er hinaustreten wollte, erhielt er einen Schlag auf die Schulter. Er wandte sich um. Vor ihm stand ein seltsamer alter Mann, dessen Gesicht man wohl nicht mehr vergaß, wenn man es einmal gesehen hatte. Es war alt, eingefallen, durchfurcht und scharf geschnitten, der Mund trat zurück, so dass das unrasierte Kinn hart hervortrat, die Oberlippe war von einem kurzgeschnittenen, struppigen Bart bedeckt, die Augen lagen hinter einer großen Stahlbrille verborgen, aber in Augenblicken der Erregung blitzend und diesem alten Antlitz, welches Kummer und Mühsal verändert hatten, um seine charakteristischen Eigenschaften, ohne sie verwischen zu können, nur schärfer hervortreten zu lassen, noch immer etwas Kühnes verleihend. – Sonst aber