Zärtlich ist die Nacht. F. Scott Fitzgerald

Zärtlich ist die Nacht - F. Scott Fitzgerald


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Mann ihn anlog. Oder, wenn er sich darin irren sollte, woher die Atmosphäre von Unaufrichtigkeit kam, die den ganzen Raum und den stattlichen Menschen in gemusterter Wolle durchdrang, der sich mit dem Behagen eines Sportsmannes in seinem Stuhl rekelte. Draußen in der Februarluft, das war eine Tragödie: der junge Vogel mit irgendwie geknickten Flügeln, und hier drin war alles zu durchsichtig, durchsichtig und falsch.

      »Ich würde jetzt gern ein paar Minuten mit ihr sprechen«, sagte Doktor Dohmler, ins Englische hinüberwechselnd, als wenn ihn das Warren näherbringen könnte.

      Später, als Warren seine Töchter dagelassen hatte und nach Lausanne zurückgekehrt war, und als mehrere Tage vergangen waren, machten der Doktor und Franz folgende Eintragung auf Nicoles Karteiblatt:

      »Diagnose: Schizophrenie. Akute Phase im Abnehmen begriffen. Die Angst vor Männern ist ein Symptom der Krankheit und keineswegs angeboren ... Die Prognose muß zurückgestellt werden.«

      Und dann warteten sie, während die Tage vergingen, mit zunehmender Spannung auf Herrn Warrens versprochenen zweiten Besuch.

      Er ließ auf sich warten. Nach zwei Wochen schrieb Doktor Dohmler. Als weiterhin Schweigen herrschte, beging er, was man in jenen Tagen »une folie« nannte und telefonierte das Grand Hotel in Vevey an, Er erfuhr von Herrn Warrens Kammerdiener, daß sein Herr beim Packen sei, um sich nach Amerika einzuschiffen. Als dem Mann zu verstehen gegeben wurde, daß die vierzig Schweizer Franken für den Anruf in den Klinikbüchern erscheinen würden, regte sich in ihm das Blut der Schweizer Garde der Tuilerien, so daß er Herrn Warren an den Apparat rief.

      »Es ist – unbedingt notwendig –, daß Sie kommen. Die Gesundheit Ihrer Tochter – alles hängt davon ab. Ich kann keine Verantwortung übernehmen.«

      »Aber ich bitte Sie, Doktor, dafür sind Sie doch gerade da. Ich bin dringend nach Hause abgerufen worden!«

      Doktor Dohmler hatte noch nie mit jemand gesprochen, der so weit entfernt war, aber er brachte sein Ultimatum telefonisch mit so viel Festigkeit vor, daß der Amerikaner am anderen Ende in seiner Todesangst nachgab. Eine halbe Stunde nach seinem zweiten Eintreffen am Zürichsee war Warren zusammengebrochen, seine schönen Schultern zuckten in dem gutsitzenden Anzug vor verzweifeltem Schluchzen, und seine Augen waren röter als die Sonne über dem Genfer See. Und sie hörten die entsetzliche Geschichte.

      »Es geschah eben«, sagte er mit rauher Stimme. »Ich weiß nicht, wie.«

      »Als ihre Mutter gestorben war, pflegte die Kleine jeden Morgen zu mir ins Bett zu kommen, manchmal schlief sie bei mir im Bett. Das kleine Ding tat mir leid. Oh, und danach, wenn wir im Auto oder in der Eisenbahn irgendwohin fuhren, pflegten wir uns an der Hand zu halten. Sie sang für mich. Oft sagten wir: ›Nun wollen wir bis heute nachmittag keinen anderen Menschen ansehen – wir wollen nur füreinander da sein – heute vormittag gehörst du mir.‹« Spröder Sarkasmus kam in seinen Tonfall: »Die Leute sagten immer, wie großartig wir als Vater und Tochter wären – und wischten sich gerührt die Augen. Wir waren wie ein Liebespaar – und dann, unversehens, waren wir ein Liebespaar – und zehn Minuten, nachdem es geschehen war, hätte ich mich am liebsten erschossen – das heißt, ich glaube, ich bin so ein verdammt degenerierter Kerl, daß ich nicht den Schneid gehabt hätte, es zu tun.«

      »Und dann?« fragte Doktor Dohmler und dachte wieder an Chicago und an einen sanften, blassen Herrn mit einem Klemmer, der ihn vor dreißig Jahren in Zürich geprüft hatte. »Wiederholte sich das?«

      »O nein! Sie ist beinahe – sie schien augenblicklich zu erstarren. Sie sagte nur: ›Mach dir nichts draus, mach dir nichts draus, Daddy. Es tut nichts. Mach dir nichts draus.‹«

      »Es hatte keine Folgen?«

      »Nein.« Er wurde von einem kurzen, krampfhaften Schluchzen geschüttelt und schnaubte sich mehrere Male. »Das heißt, jetzt haben wir Folgen im Überfluß.«

      Als Warren mit seiner Geschichte fertig war, lehnte sich Dohmler in seinem Armsessel zurück und sagte empört zu sich selbst: »Bauer!« Es war eins der wenigen handfesten Urteile, die er sich im Verlauf von zwanzig Jahren angemaßt hatte. Dann sagte er:

      »Ich möchte gern, daß Sie in einem Hotel in Zürich übernachten und mich morgen früh besuchen.«

      »Und was dann?«

      Doktor Dohmler spreizte seine Hände so breit auseinander, daß er ein junges Schwein hätte tragen können.

      »Chicago«, schlug er vor.

      »Nun wußten wir, wo wir standen«, sagte Franz. »Dohmler gab Warren zu verstehen, daß wir den Fall übernehmen würden, wenn er sich damit einverstanden erklärte, sich auf unbegrenzte Zeit, mindestens jedoch auf fünf Jahre, von seiner Tochter fernzuhalten. Nach Warrens anfänglichem Zusammenbruch schien er sich hauptsächlich dafür zu interessieren, ob jemals etwas über die Geschichte nach Amerika durchsickern würde.

      Wir stellten einen Behandlungsplan für sie auf und warteten. Die Prognose war schlecht – wie du weißt, ist der Prozentsatz der Heilungen, sogar derjenigen, die nur dem Namen nach Heilungen sind, in diesem Alter sehr niedrig.«

      »Die ersten Briefe sahen schlimm aus«, stimmte Dick zu.

      »Sehr schlimm – sehr typisch. Ich habe gezögert, ob ich den ersten aus der Anstalt herauslassen sollte, dann dachte ich, es wird Dick gut tun, zu wissen, daß wir hier weitermachen. Es war nett von dir, daß du auf sie geantwortet hast.«

      Dick seufzte. »Sie war so ein liebes Ding. Sie fügte eine Menge Photos von sich bei. Und einen Monat lang hatte ich dort nichts zu tun. Alles, was ich ihr schrieb, war: ›Seien Sie brav und tun Sie, was die Ärzte sagen.‹«

      »Das genügte schon – so hatte sie draußen jemand, an den sie denken konnte. Eine Zeitlang hatte sie keinen Menschen – nur eine Schwester, an der sie nicht sehr zu hängen scheint. Übrigens hat uns die Lektüre ihrer Briefe hier weitergeholfen – sie waren uns ein Maßstab für ihren Zustand.«

      »Das freut mich.«

      »Du weißt also, wie die Dinge lagen. Sie fühlte sich mitschuldig – an sich wäre das belanglos, wenn wir nicht ihre äußerste Standhaftigkeit und Charakterfestigkeit wiederherstellen wollten. Zuerst kam dieser Schock, dann wurde sie in eine Pension gesteckt und hörte die Mädchen untereinander reden – und aus purem Selbstschutz nährte sie in sich die Vorstellung, daß sie nicht mitschuldig gewesen sei – und von da war es leicht, in eine Phantasiewelt zu gleiten, in der alle Männer um so schlechter sind, je mehr man sie liebt und ihnen vertraut.«

      »Hat sie jemals das – Schreckliche direkt erwähnt?«

      »Nein, und offen gesagt, als sie im Oktober etwa begann, einen normalen Eindruck zu machen, befanden wir uns in einer heiklen Lage. Wäre sie dreißig Jahre alt gewesen, hätten wir ihr erlaubt, sich selbst zurechtzufinden; aber sie war so jung, daß wir fürchteten, sie könne sich verhärten, verkrampft, wie alles in ihr war. Darum sagte Doktor Dohmler ganz offen zu ihr: ›Sie haben jetzt Pflichten gegen sich selbst. Glauben Sie nicht, daß für Sie alles zu Ende ist – Ihr Leben befindet sich erst am Anfang‹, und so weiter und so weiter. Sie hat einen sehr gut entwickelten Verstand, darum ließ er sie etwas Freud lesen, nicht zu viel, und es interessierte sie sehr. Tatsächlich wird sie von uns allen hier verhätschelt. Aber sie ist zurückhaltend«, fügte er hinzu; er zögerte: »Wir hätten gern gewußt, ob sie in ihren letzten Briefen an dich, die sie selbst in Zürich aufgab, irgend etwas geschrieben hat, was Aufschluß über ihren Gemütszustand und über ihre Zukunftspläne geben könnte.«

      Dick überlegte.

      »Ja und nein – ich kann die Briefe herbringen, wenn du es willst. Sie scheint voller Hoffnung und in normaler Weise lebenshungrig zu sein – ja beinahe romantisch. Manchmal spricht sie von der ›Vergangenheit‹, wie Leute es tun, die im Gefängnis waren. Man weiß nie, ob sie auf das Verbrechen oder die Gefangenschaft oder die Erfahrung als solche anspielen. Eigentlich bin ich in ihrem Leben nichts anderes als eine


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