Kreuzweg zu anderen Ufern. Wolfgang Bendick

Kreuzweg zu anderen Ufern - Wolfgang Bendick


Скачать книгу
Dieses Wort wenigstens blieb. Das Konzil hatte beschlossen, die Gläubigen von nun ab als „mündige“ Christen zu behandeln, was unser Pfarrer halt so auslegte, dass man ihnen die Kommunion weiterhin in den Mund schob. Manchmal, wenn ich dann endlich als erster in der Reihe stand, zögerte er eine Weile. Er überlegte wohl, ob ich auch gebeichtet hatte und des Empfangs des Herrn würdig wäre…

      *

      Unsere Kirche, im Großen und Ganzen im spät-barocken Stil ausgestattet, steht gewissermaßen im Zentrum des Dorfes, auf einer leichten Erhöhung. Es ist schon erstaunlich, wie ein so kleines Dorf eine so stattliche Kirche hatte bauen können. Denn damals, zu Beginn des 18. Jahrhunderts, musste die Gemeinde nicht einmal tausend Einwohner gezählt haben! „Glauben versetzt Berge“, heißt es irgendwo in der Bibel. Und der Glaube (verbunden mit Ablasshandel und anderen kommerziellen Tricks) verhalf den Menschen solche Bauwerke zu schaffen wie unsere Kirche oder den Petersdom in Rom, den Protz-Bau der katholischen Kirche.

      Sonntags war unsere Kirche der Treffpunkt der katholischen Bewohner der Umgebung. Wer nicht viel mit Religion am Hut hatte, kam trotzdem her und stellte sich eine Weile hinten in den Mittelgang oder traf sich gleich mit Gleichgesinnten im Gasthof „zum Hasen“, der genau gegenüberlag. Hier saß man lachend um die weißgescheuerten Tische und erzählte lauthals im dicken Qualm von Stumpen oder Villinger-Kiel die letzten Schwänke, ein Glas Bier vor sich. Man fischte sich ein Wienerle aus dem in der Mitte der Tafel stehenden Topf heraus, tauchte es in den blaugrauen Steingut-Senftopf mit dem bayrischen Wappen darauf und führte es sich zum Munde. Während gegenüber in der Kirche im Weihrauchnebel der Pfarrer den Kelch hob, die Ministranten ihre Schellen klirren ließen und sich die braven Bäuerlein schuldbekennend an die Brust klopften. „Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa“. Neuerdings: „Durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine übergroße Schuld!“ Alles war sehr feierlich und bis ins Kleinste geregelt, so dass ein unabsichtliches Husten oder Nießen fast wie eine Gotteslästerung aufgenommen wurde.

      Auf der Empore ging es etwas lockerer zu. Hier fanden sich die Ober- oder Mittelschüler ein, ein paar Arbeiter, weniger Bauern, von denen aber trotzdem ein deftiger Kuhstall- oder Silo-Geruch ausging. Manchmal mischte sich darunter ein leiser Furz. Das schelmische Grinsen eines Kumpels wies uns schon im Voraus auf das Ereignis hin, bevor die Duftnote mit unseren Geruchsnerven in Berührung gekommen war. Ein verliebtes Paar in einer Ecke hielt sich an der Hand, flüsterte sich leise Liebesworte zu, bisweilen vom Zischen eines der überall anwesenden Betweiber zur Ruhe gemahnt.

      Der Sonntag fing wie jeder Tag früh um sechs mit dem Angelusläuten an, dem Engel des Herrn, eigentlich zu Ehren der Heiligen Jungfrau gedacht, aber sonntags besonders kräftig geläutet, um die Schläfer davon abzuhalten, einen gemütlichen Vormittag im Bett zu verbringen. Dreimal täglich (morgens, mittags und abends) verkünden die Glocken den Besuch des Erzengels Gabriels, der Maria die frohe Botschaft ihrer Schwangerschaft überbrachte. Die Frühmesse war um sieben Uhr, hauptsächlich besucht von den Bauersfrauen, die als erste ihrer Sonntagspflicht nachgingen, während der Mann noch die Kühe molk. Hier bediente die Mina, eines der ‚Betweiber‘ oder auch ‚Hörgerät‘ des Pfarrers, wie wir sie aus leicht erkennbaren Gründen nannten, die Register der Orgel. Sie hatte ein Bein etwas kürzer als das andere, ein Mangel, der durch einen besonderen Schuh wieder ausgeglichen wurde. Dadurch hatte sie eine etwas holprige Gangart. „Beim Orgelspielen hörst du genau heraus, wenn die Mina spielt!“, klärte mich mal ein Freund auf. „Horch, das ist genauso wie wenn sie läuft!“

      Mich wunderte immer, dass niemand sonntags arbeiten durfte, außer den Bauern, die eh schon während der Woche genug Arbeit am Hals hatten. Das wurde als ein Privileg hingestellt, als eine ihnen gewährte Ausnahme. Diese Messe, werktags ohne Orgelspiel oder Weihrauch, dauerte rund eine Dreiviertelstunde und wurde vom alten Pfarrer gehalten, der nicht mehr so gut auf den Ohren und den Beinen war. Um neun Uhr folgte das feierliche Hochamt. Hier amtierte der hochwürdige Pfarrer selber, der nebst Ehrenfunktionen auch eine Menge Ehrentitel wie ‚Dekan‘ und ‚Geistlicher Rat‘ trug, neuerdings zudem noch den des ‚Erzbischöflichen Kämmerers‘, die sich, unvermeidlich wie der Staub auf den Heiligenfiguren im Laufe der Zeit angesammelt hatten. Er bestand darauf, mit diesen angeredet zu werden oder zumindest aber, dass sie auf den an ihn adressierten Briefen standen.

      Seine Zeremonien wurden feierlich durchgeführt, das heißt, in Prunkgewändern, mit der dazugehörigen Langsamkeit, oft noch mit der Beihilfe eines anderen Pfarrers oder Zeremoniars und mit der doppelten Anzahl von Ministranten. Die Predigt von der Kanzel zog sich ewig hin. So manches Bäuerlein schlief dabei ein, da an einem Sonntag deren Arbeit schon früher losging, um um neun Uhr für die Messe frei zu sein. Die Ansprachen waren immer etwas verschieden, aber die Schlussworte jedes Mal die gleichen: „…um in die ewige Herrlichkeit einzugehen!“ „Amen!“ antwortete dann die versammelte Menge und erhob sich unter einem lauten Raunen, welches die Kirche erfüllte. Jetzt endlich trauten sich die Erkälteten zu husten oder zu niesen.

      Bisweilen kam es vor, dass der Pfarrer schon vorher von der ewigen Herrlichkeit sprach, und zwar so inbrünstig, dass die, welche ihm zuhörten, glaubten, er kenne sie aus persönlicher Erfahrung. Diejenigen, die ihm nur halb zugehört hatten, erhoben sich bei dem Wort, und manchmal fing auch schon die Orgel an zu spielen. Das waren jedes Mal peinliche Momente, bis alle dann wieder saßen und auch die Orgel verstummt war. Denn einfach sich das Wort nehmen lassen, entsprach nicht dem Wesen unseres herrischen Pfarrers! So ein Hochamt dauerte schon mal 1½ Stunden oder mehr. Unter dem Deckengewölbe sammelte sich dann der Weihrauch und es schien, dass die Engel des Deckenfreskos in Wolken schwebten. Die Orgel schmetterte zum Abschluss ein Lied, das alle kannten und unendlich viele Strophen hatte. Das konnte wirklich ergreifend sein, wenn die Orgel aus allen Registern dröhnte, unterstützt vom Gesang aus hunderten Kehlen, man wurde vom Strom der Menschen erfasst und schwebte schier hinaus. Man fühlte sich gestärkt für die Woche und in totalem Einklang mit dem lieben Gott.

      Bisweilen aber hängte der Pfarrer an die Messe noch Fürbitten an, die mit einem Ave-Maria und einem Vaterunser-Gebet verstärkt empor an Gottes Ohr dringen sollten. Oder eine Litanei, so ein Bittgebet, schier ohne Ende. Der Pfarrer rief die Namen der Heiligen auf, das Volk antwortete mit „Bitt‘ für uns!“ oder „Wir bitten dich, erhöre uns!“ Manchmal war das die Bitte um Regen für die Felder, die Hilfe für einen Kranken, oder dass die Juden endlich einsichtig werden und Jesus als den Messias anerkennen sollten, um endlich zum wahren Glauben zu finden. Oder während des Vietnamkrieges: Dass der Vietkong, diese gottlosen Kommunisten und mit ihnen der Antichrist endlich von den christlichen Heeren besiegt würden und ein für alle Mal Frieden auf Erden einkehren könne, wie Jesus, unser Herrgott es verheißen hatte…

      War einmal der Schlusssegen gesprochen, strömten alle hinaus, man diskutierte mit Freunden vor der Kirche oder begab sich in eines der nicht weit entfernten Gasthäuser zu einem Bier oder auf einen Schafskopf. Das konnte bis zum Mittagessen dauern oder für manche bis zum Abend oder bis in die Nacht. Das war nicht gerade heilsam für den Haussegen, der dann für den Rest der Woche schief hing…

      *

      Es kam dann die Zeit, wo wir jungen Kerle nicht mehr in die Kirche gingen. Gut, die Kirche war immer noch voll, es waren also nur wenige, die sie schwänzten. Mein Bruder zog es vor, bis Mittag im Bett zu bleiben; ich traf mich mit Freunden, wir machten eine Radtour oder strolchten durch die umliegenden Wiesen oder Wälder. Damals wetteiferten die Atommächte im Bauen und Zünden von immer stärkeren Bomben in der Erdatmosphäre. Das nannte man das ‚Gleichgewicht des Schreckens‘ oder ‚Kalter Krieg‘. Wir fragten uns, wie ein ‚Heißer Krieg‘ aussehen würde… Im Radio warnte man vor den radioaktiven Niederschlägen, die mit dem Regen zur Erde fielen. Es war Frühling. Überall blühten die Weidenkätzchen. Ihr gelber Pollen schwamm auf den Pfützen und lagerte sich am Rand der Schlaglöcher ab. Wir hielten das für die radioaktiven Niederschläge und fuhren jetzt lieber drum herum, anstatt wie früher mittendurch, um uns voll zu spritzen. Der Wahnsinn, man nannte ihn den ‚Overkill‘, ging so weit, dass die Supermächte so viele Atombomben produziert hatten, dass man hätte die Erde 60mal in ‚die Luft sprengen‘ können, bildlich ausgedrückt natürlich. Auf gut Deutsch hieße das, pulverisiert und als Sternschnuppen im Weltall verteilt. Für uns junge Leute war das eine schreckliche Vorstellung, vor allem, da die Generation unserer


Скачать книгу