Joseph Conrad: Das Ende vom Lied – Weihe – Hart of Darkness:. Joseph Conrad

Joseph Conrad: Das Ende vom Lied – Weihe – Hart of Darkness: - Joseph Conrad


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kühlen Kopf bewahren zu können. Sein Haar war kurz geschoren, sein Leinen von tadelloser Weiße; ein Anzug aus dünnem, grauem Flanell, etwas abgetragen, aber sauber gebürstet, umfloß seine mächtigen Glieder und erhöhte durch den losen Schnitt noch die Wucht der Erscheinung. Die Jahre hatten die lustige, unbeirrbare Kühnheit seiner Jugend zu einem steten Gleichmut gemildert; und das leise Klopfen seines Stocks mit der Eisenspitze auf dem Pflaster begleitete seine Schritte mit einem selbstbewussten Ton. Es schien undenkbar, eine so vornehme Erscheinung und ein so unverbrauchtes Aussehen mit den erniedrigenden Sorgen der Armut in Verbindung zu bringen; das ganze Leben des Mannes schien einem leicht und weit vor Augen zu stehen, in völliger Freiheit von Geldsorgen und weit wie die Kleider, die er nun am Leibe trug.

       Die fast übertriebene Sorge, zu persönlichen Ausgaben im Hotel seine fünfhundert Pfund angreifen zu müssen, störte seine Gemütsruhe. Es gab keine Zeit zu verlieren. Die Rechnung summte sich auf. Er hoffte, dass diese fünfhundert Pfund vielleicht, wenn alles sonst versagte, das Mittel sein konnten, irgendeine Arbeit zu bekommen, die ihm helfen sollte, Leib und Seele zusammenzuhalten (was keine große Sache war), aber auch, seiner Tochter behilflich zu sein. Für sein Gefühl war es ihr Geld, das er dazu benützte, um ihrem Vater, und zwar zu ihrem Nutzen, auszuhelfen. Sobald er einen Posten hatte, wollte er ihr den Großteil seines Gehalts schicken; er konnte noch lange Jahre Dienst tun, und dieses Kosthaus, so sagte er sich, konnte, wie gut auch die Aussichten sein mochten, von Anfang an nicht etwa gleich eine Goldgrube sein. Was für eine Arbeit aber sollte er suchen? Er war bereit, alles anzunehmen, was sich mit seiner Würde vertrug und ihm schnell unter die Finger kam; denn die fünfhundert Pfund mussten für etwaige Notfälle unbedingt erhalten bleiben. Das war die Hauptsache. Mit den ganzen Fünfhundert fühlte man ein Vermögen hinter sich; doch hatte er das Gefühl, dass das Geld alle Wirkung verlieren würde, wenn er es erst auf vierhundertfünfzig oder auch nur vierhundertachtzig einschrumpfen ließ, als läge in der runden Summe eine Zauberkraft. Was für eine Arbeit aber?

      Von dieser quälenden Sorge verfolgt wie von einem bösen Geist, gegen den er keine Beschwörungsformeln kannte, blieb Kapitän Whalley auf dem Scheitelpunkt einer kleinen Brücke stehen, die sich steil über das Bett eines zwischen Granitmauern eingezwängten Flusses spannte. Zwischen den Quaderwänden lag eine malaiische Hochseeprau vor Anker, halb unter dem Steinbogen verborgen, die Spieren niedergefiert, ohne einen Laut an Bord, vom Heck bis zum Bug mit einer Unmenge von Matten aus Palmblättern bedeckt. Er hatte das überhitzte Pflaster hinter sich gelassen, mit seiner Einfassung von Steinmauern, die wie die Klippen jeder Einbuchtung des Ufers folgten; vor ihm tat sich eine unbegrenzte Weite auf, wie ein gepflegter Park, mit weiten Flächen kurzen Rasens, wie grüne glatte Teppiche, mit langen Reihen alter Bäume, die als dunkle Säulen das Astgewölbe einer ungeheuren Halle zu tragen schienen.

       Einige dieser Alleen endeten am Meer. Die Masten und Spieren einiger Schiffe, die weit weg lagen, den Rumpf unter der Kimm, ragten in einem feinen Gewirr rosiger Linien, wie mit Bleistift gezeichnet, gegen den klaren Himmel empor. Kapitän Whalley sandte ihnen einen langen Blick zu. Dort draußen lag auch das Schiff, das einst das seine gewesen. Es tat weh, denken zu müssen, dass es ihm nicht länger gegeben war, am Quai ein Boot zu nehmen und sich zu dem Schiff hinausrudern zu lassen, wenn der Abend kam. Zu keinem Schiff. Vielleicht nie wieder. Bevor der Kauf abgeschlossen und bis die Kaufsumme bezahlt war, hatte er täglich einige Zeit an Bord der „FAIR MAID“ zugebracht. Das Geld war an diesem selben Morgen bezahlt worden, und nun gab es mit einmal kein Schiff mehr, an dessen Bord er gehen konnte, wenn ihn die Lust ankam. Kein Schiff, das seine Gegenwart brauchen würde, für die Arbeit – zum Leben. Es schien eine ganz unglaubliche Sachlage, zu lächerlich, um von Dauer sein zu können. Und die See war voll von Schiffen aller Art. Da lag diese Prau so still unter ihren Decken aus zusammengenähten Palmblättern – auch sie hatte ihren unentbehrlichen Mann. Sie lebten beide voneinander, dieser Malaie, den er nie gesehen hatte, und dieses unförmige Ding mit dem hohen Heck, das nach einer langen Reise auszuruhen schien. Und von all den Schiffen in Sicht, nah und fern, hatte jedes seinen Mann, den Mann, ohne den auch das schönste Schiff ein totes Ding ist, ein treibender, zweckloser Klotz.

      Nachdem er diesen einen Blick über die Reede geworfen hatte, ging er weiter, da es nichts mehr gab, dem er sich hätte zuwenden können, und die Zeit irgendwie hingebracht werden musste. Die Alleen zwischen den großen Bäumen erstreckten sich weit längs der Küste, schnitten einander in verschiedenen Winkeln, mit Säulen an ihrem Fuß und wucherndem Überschwang oben. Die verschlungenen Äste dort oben schienen zu schlummern; kein Blatt rührte sich, und die Gusseisenrohre der Lampenpfosten in der Mitte der Straße, goldfarben wie Zepter, verkleinerten sich in der weiten Perspektive und schienen mit ihren weißen Porzellankugeln auf der Spitze ein barbarischer Schmuck aus Straußeneiern, die in einer Reihe aufgepflanzt waren. Der flammende Himmel warf einen kleinen Purpurfleck auf die glitzernde Oberfläche der Glasschalen.

      Das Kinn ein wenig gesenkt, die Hand hinter dem Rücken und mit dem Stockende eine leicht zitterige Spur in den Kies ritzend, überlegte Kapitän Whalley, dass ein Schiff ohne Mann wie ein Körper ohne Seele war, ein Seemann ohne ein Schiff aber in dieser Welt nicht viel mehr bedeutete, als ein herrenloser Baumstamm, der im Meere treibt. Der Baumstamm mochte innerlich ganz gesund sein, zäh in der Faser und kaum umzubringen, doch was bedeutete das! Das plötzliche Vorgefühl unabänderlicher Muße machte ihm die Füße schwer wie Blei.

       Mehrere offene Wagen rollten hintereinander die neu eröffnete Küstenstraße einher. Man konnte über die weiten Rasenflächen weg die von den wirbelnden Speichen gebildeten Kreise sehen. Die bunten Wölbungen der Sonnenschirme hingen leicht heraus wie voll erschlossene Blüten über den Rand einer Vase; und die ruhige Fläche dunkelblauen Wassers, von einem Purpurstreifen durchkreuzt, bildete den Hintergrund für die kreisenden Räder und die weit ausgreifenden Pferde, während die turbanbedeckten Köpfe der indischen Diener, über die Horizontlinie hinausragend, am bleiernen Blau des Himmels entlangglitten. Auf einem offenen Platz nahe der kleinen Brücke bog jedes Gespann in einem eleganten Bogen vom Sonnenuntergang weg, wurde dann scharf angehalten und schloss sich der langen Reihe andrer an, die im Schritt, den tiefroten Himmel im Rücken, die Hauptallee durchzogen. Die Stämme der mächtigen Bäume zeigten alle auf derselben Seite die rote Färbung; die Luft unter dem hohen Blätterwerk schien zu brennen – sogar noch der Boden unter den Hufen der Pferde war rot. Die Räder kreisten langsam. Die Farben des Sonnenuntergangs vergingen eine nach der anderen, langsam, wie Riesenblüten, die ihre Kelche am Ende des Tages schließen. In der eine halbe Meile langen Kette sprach keine menschliche Stimme ein vernehmliches Wort, nur der leise Hufschlag war zu hören, mit dem gelegentlichen Klingeln vermischt, und die reglosen Köpfe und Schultern von Männern und Frauen, die nebeneinander saßen, ragten über die niedergelassenen Verdecke empor, wie aus Holz geschnitzt. Ein Gespann aber, das später ankam, schloss sich der Reihe nicht an.

       Es flog lautlos dahin. Beim Betreten der Allee scheute einer der dunklen Braunen, bog den Hals und drückte sich schnaubend mit der Stahlkappe gegen die Deichsel. Eine Schaumflocke flog vom Gebiss gegen die seidige Schulter, und das dunkle Gesicht des Kutschers lehnte sich augenblicks vor, während die Hände in die Zügel nachgriffen. Es war ein langer, dunkelgrüner Landauer, der sich zwischen den scharfgebogenen C-Federn feierlich schwebend fortbewegte, und dessen äußerste Eleganz den Eindruck hochamtlicher Würde erweckte. Er schien geräumiger, als es sonst üblich ist, seine Pferde etwas größer, das Geschirr noch tadelloser, die Diener etwas höher auf dem Kutschbock. Die Gewänder dreier Frauen – zwei davon jung und hübsch, eine schön und voll in reifem Alter – schienen das geräumige Wageninnere ganz auszufüllen. Das vierte Gesicht war das eines Mannes mit schweren Gliedern, vornehm und hager, mit einem dicken, dunkel eisengrauen Knebel- und Schnurrbart. Seine Exzellenz...

      Die schnelle Bewegung dieses einen Wagens ließ alle anderen völlig minderwertig und unansehnlich erscheinen und dazu verdammt, mühselig im Schneckentempo hinzukriechen. Der Landauer ließ die ganze Reihe in federndem Trab hinter sich. Die Umrisse der Insassen, die rasch außer Sicht glitten, hinterließen den Eindruck starrer Blicke und unbeirrter Teilnahmslosigkeit.

       Kapitän Whalley hatte den Kopf gehoben, um zuzusehen, und sein Verstand, in seinen Betrachtungen gestört, wandte sich nun erstaunt, wie es der menschliche Verstand gern tut, ganz nebensächlichen Dingen zu. Es fiel ihm plötzlich ein, dass er gerade in diesen Hafen, wo er nun sein letztes Schiff


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