Joseph Conrad: Das Ende vom Lied – Weihe – Hart of Darkness:. Joseph Conrad

Joseph Conrad: Das Ende vom Lied – Weihe – Hart of Darkness: - Joseph Conrad


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Whalley stellte beiläufig fest, dass er nicht einsehen könne, warum ein Lord von der richtigen Art nicht ebenso guttun sollte wie irgend sonst jemand. Das aber war nicht des Anderen Ansicht.

      „Nein, nein. Die Stadt regiert sich selbst, nichts kann sie jetzt aufhalten. Gut genug für einen Lord“, brummte er abgerissen vor sich hin. „Sieh dir die Veränderung seit unseren Tagen an. Wir brauchen hier nun einen Lord. In Bombay haben sie auch einen Lord.“

      Er war ein oder zweimal im Jahre im Regierungspalast geladen – einem vielfenstrigen Bau mit Arkaden, auf einem Hügel, der zum Park umgestaltet war. Kürzlich hatte er auch in der Dampfbarkasse, die ihm als Arsenaldirektor zustand, einen Herzog im Hafen herumgefahren, um die Neuerungen zu besichtigen. Vorher war er noch ‚sehr liebenswürdig’ persönlich hinausgefahren, um einen guten Liegeplatz für die herzogliche Jacht auszusuchen. Nachher wurde er an Bord zu Mittag geladen. Die Herzogin selbst saß mit bei Tisch. Eine große Frau mit einem roten Gesicht. Die Haut ganz sonnverbrannt. Ruiniert, seiner Ansicht nach. Sehr liebenswürdig. Sie fuhren nach Japan weiter...

      Diese Einzelheiten brachte er zu Kapitän Whalleys Erbauung vor, mit Pausen dazwischen, in denen er wie in gesteigertem Machtgefühl die Wangen aufblies oder die dicken Lippen vorschob, bis seine dunkelrote Nasenspitze in die Milch seines Schnurrbartes zu tauchen schien. Die Stadt regierte sich selbst; war für jeden Lord geeignet; es gab keinerlei Schwierigkeiten, außer in der Seeabteilung – in der Seeabteilung, wiederholte er zweimal und begann nach einem lauten Schnarchen zu erzählen, der Generalkonsul S. M. im französischen Cochinchina habe ihn kürzlich – in seiner amtlichen Eigenschaft – durch Kabel gebeten, einen geeigneten Kapitän für ein Glasgower Schiff hinüberzuschicken, dessen bisheriger Schiffer in Saigon gestorben war.

       „Ich machte davon der Offiziersabteilung im Seemannsheim Mitteilung“, fuhr er fort, während das Hinken in seinem Gang sich mit der wachsenden Erregung seiner Stimme zu steigern schien. „Die Stadt ist voll von ihnen. Zweimal soviel Leute als Plätze in der Küstenschiffahrt frei sind. Alle heißhungrig nach einem schönen Posten. Zweimal soviel – und – was glaubst du, Whalley? ...“ Er brach kurz ab; man sah, wie er die Fäuste ballte und sie noch tiefer in die Taschen schob, dass diese im nächsten Augenblick bersten zu wollen schienen. Kapitän Whalley entschlüpfte ein leichter Seufzer.

      „Was? Du meinst wohl, sie wären vor Hast übereinander gestolpert? Keine Rede davon. Fürchten sich heimzukehren. Ganz nett und warm hier heraußen, in einer Veranda zu liegen und auf einen Posten zu warten. Ich sitze in meinem Büro und warte. Niemand. Was glauben die Kerle? Dass ich da wie ein Affe sitzen bleiben würde, mit dem Telegramm des Generalkonsuls vor mir? Nicht gern! So sah ich also eine Liste durch, die ich über diese Burschen habe, schickte nach Hamilton, dem schlimmsten Faulenzer unter ihnen – und brachte ihn einfach auf den Trab. Drohte ihm, ich würde den Verwalter des Seemannsheims anweisen, ihn Hals über Kopf hinauszuwerfen. Er war der Meinung, der Posten sei nicht gut genug – hast du Worte! ‚Ich habe gewisse Aufzeichnungen über Sie’, sagte ich. ‚Sie sind vor achtzehn Monaten hier gelandet und haben seither keine sechs Monate gearbeitet. Nun sind Sie im Heim den ganzen Unterhalt schuldig und nehmen wohl, wie ich glaube, an, das Seeamt werde schließlich zahlen. Wie? Das werden wir auch; wenn Sie aber diese Gelegenheit nicht benutzen, so gehen Sie mit gebundener Marschroute auf dem ersten heimkehrenden Dampfer, der hier vorbeikommt, nach England zurück. Sie sind nichts anderes als ein Almosenempfänger. Wir wollen keine weißen Bettler hier!’ Damit erschreckte ich ihn. Aber denk dir doch, wieviel Ärger ich von alledem hatte.“

      „Du hättest gar keine Scherereien gehabt“, sagte Kapitän Whalley fast wider Willen, „wenn du nach mir geschickt hättest.“

       Darüber freute sich Kapitän Eliott ungeheuerlich. Er schüttelte sich im Weitergehen vor Lachen. Plötzlich aber hielt er im Lachen inne. Eine dunkle Erinnerung war ihm durch den Kopf geschossen. Hatte er nicht damals, bei dem Travancore- und Dekhankrach, davon reden hören, der arme Whalley sei um alles gekommen. ‚Dem Burschen geht es schlecht, beim Himmel’, dachte er und warf gleichzeitig einen forschenden Seitenblick zu seinem Gefährten hinauf. Kapitän Whalley aber ging ernst vor sich hin, mit einer Kopfhaltung, die bei einem völlig verarmten Mann undenkbar gewesen wäre – und der andere beruhigte sich wieder. Unmöglich; er konnte nicht alles verloren haben. Das Schiff war für ihn nur ein Steckenpferd gewesen. Und die Erwägung, dass ein Mann, der nach seinem eigenen Geständnis erst am gleichen Morgen eine doch wohl erhebliche Summe eingenommen hatte, schwerlich auf ein kleines Darlehen aus sein konnte, brachte ihn wieder völlig ins Gleichgewicht. Immerhin war eine längere Pause in ihrem Gespräch entstanden, und da er nicht wusste, wie er wieder beginnen sollte, so knurrte er bekümmert hervor: „Wir alten Knaben sollten uns nun zur Ruhe setzen.“

      „Für einige von uns wäre es sicher besser, auf der Brücke zu sterben“, warf Kapitän Whalley nachlässig ein.

      „Was denn! Komm doch – bist du der ganzen Sache immer noch nicht müde?“ stieß der andere grimmig hervor.

      „Und du?“

      Kapitän Eliott war müde, höllisch müde. Er klebte an seinem Posten nur deshalb so lange, um sich die höchste Pension zu ersitzen, bevor er heimging. Auch die würde kaum mehr bedeuten als bittere Armut, doch würde sie eben die einzige Trennungsmauer zwischen ihm und dem Arbeitshaus darstellen. Und er hatte eine Familie. Drei Mädchen, wie Whalley ja wusste. ‚Harry, der alte Junge’, sollte nur verstehen, dass diese drei Mädchen für ihn eine Quelle unaufhörlicher Sorgen waren. Nein, man konnte verrückt werden darüber.

      „Warum, was haben sie denn getan?“ fragte Kapitän Whalley mit einer Art belustigter Zerstreutheit.

      „Getan! Nichts getan! Das ist's ja gerade. Lawn-Tennis und dumme Romane von früh bis abends...“

      Wenn wenigstens eine davon ein Junge geworden wäre! Aber alle drei! Und wie es das Unglück wollte, schien es auch keine anständigen Männer mehr auf der Welt zu geben. Wenn er sich so im Club umblicke, dann sehe er nur eine Schar eingebildeter Laffen, alle zu selbstsüchtig, als dass sie daran denken würden, eine gute Frau glücklich zu machen. Die ganze Schar zu Hause behalten zu müssen, bedeutete für ihn bittere Armut. Es war sein Lieblingsgedanke gewesen, sich ein kleines Landhaus zu bauen – in Surrey – um seine Tage darin zu beschließen; aber er fürchtete, das käme nun gar nicht mehr in Frage ... und seine Kugelaugen rollten in so ergreifender Angst nach oben, dass Kapitän Whalley mitleidig zu ihm hinunternickte, dabei aber eine verräterische Lachlust niederzukämpfen hatte.

      „Du musst ja selbst am besten wissen, wie es ist, Harry. Die Mädel machen einem eine ganze Menge Kummer und Sorgen.“

      „Oh! Aber meine macht sich ganz gut“, sagte Kapitän Whalley langsam und sah starr die Straße entlang.

       Der Arsenaldirektor freute sich, das zu hören. Freute sich ungemein. Er erinnerte sich ihrer noch gut. Ein hübsches Mädchen war sie. Kapitän Whalley ging nachlässig dahin und stimmte wie im Traume zu:

      „Sie war hübsch.“

      Der Wagenzug wurde zusehends kleiner. Eines der Gespanne nach dem anderen löste sich aus der Reihe, fuhr in scharfem Trab davon und füllte die breite Allee mit Leben und Bewegung; bald aber kehrte die Stimmung würdiger Stille wieder und nahm von der geraden und breiten Straße Besitz. Ein weißgekleideter Sais stand neben dem Kopf eines Burmaponys, das an einen schönlackierten, zweiräderigen Wagen gespannt war. Das ganze Gespann, das am Randstein wartete, erschien unter den riesigen Bäumen kaum größer als ein vergessenes Kinderspielzeug. Kapitän Eliott watschelte darauf zu und machte Miene, in den Sitz zu klettern, hielt sich aber zurück; eine Hand leicht auf die Sitzlehne gestützt, wechselte er das Thema und ging von seiner Pension, seinen Töchtern und seiner Armut wieder zu dem sonst noch einzigen Gesprächsstoff über – dem Seearsenal, den Leuten und Schiffen im Hafen.

       Er fuhr fort, Beispiele davon zum Besten zu geben, was alles von ihm erwartet wurde; und seine heisere Stimme klang durch die stille Luft wie das eigensinnige Gebrumm einer Riesenhummel. Kapitän Whalley wusste nicht recht, welche Kraft oder welche Schwäche ihn abhielt, „Gute Nacht“ zu sagen und davonzugehen. Es schien, als wäre er zu müde, um die Anstrengung zu wagen. Wie merkwürdig! Merkwürdiger


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