JACOB. Irene Dorfner

JACOB - Irene Dorfner


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ihm sprechen wollte, und entschied, wieder zu gehen.

      „Wo finde ich Ihren Mann?“

      „Wo soll er schon sein? In der Firma natürlich!“, sagte sie schroff. Sie war erleichtert, als sie die Haustür hinter ihm endlich schließen konnte. Zur Sicherheit legte sie die Kette vor.

      „Ist er weg?“, fragte der junge Mann, der nackt die Treppen herabstieg.

      „Ja.“

      „Etwas Wichtiges?“

      Sie wollte ihm nicht antworten. Warum sollte sie ihn damit belasten?

      Krohmer stieg in seinen Wagen und notierte sich das Kennzeichen des Motorrollers, der hinter dem Gebüsch parkte. Es war offensichtlich, dass der Roller versteckt wurde, ihm aber wegen der auffälligen Farbe nicht entging. Frau Winzl war nie und nimmer allein im Haus.

      Alfred Winzl las wieder und wieder den Zettel, dem Krohmer ihm übergeben hatte. Der Firmenchef schien um Jahre gealtert.

      „Märchen haben mich noch nie interessiert, dafür hatte ich auch keine Zeit. Können Sie sich vorstellen, wieviel Zeit und Kraft man in eine Firma stecken muss, die man aus dem Nichts aufbaut? Da darf man keine Hobbys haben und sich nicht vergnügen, da muss man Kräfte sammeln und das Augenmerk nur auf die Firma legen. Märchen! Wer hat denn so einen Faible dafür, dass er Spuren legt, nachdem er meinen Sohn entführt hat?“

      „Das frage ich Sie, Herr Winzl.“

      „Ich kenne niemanden, der sich mit Märchen beschäftigt, dazu bin ich in der falschen Branche. Ich handle mit Schrott und Eisenwaren, und das inzwischen weltweit.“

      „Das ist sehr beachtlich. Kommen wir auf die Märchen zurück. Sie gehen von einem Mann als Täter aus?“

      „Wenn es um die Entführung geht: Ja. Aber die Märchen sind doch eher etwas für Frauen. Vielleicht ein Pärchen?“

      „Mag sein. Haben Sie sich nochmals Gedanken darüber gemacht, wer Jacob entführt haben könnte?“

      „Ich denke an nichts anderes, aber mir fällt niemand ein.“

      Krohmer überlegte einen Moment, ob er Winzl auf ein eventuelles Verhältnis seiner Frau ansprechen sollte, entschied sich aber dagegen. Die beiden mussten mit dem Verschwinden ihres Sohnes klarkommen, dazu brauchten sie nicht auch noch einen Ehestreit.

      Als Krohmer gegangen war, gingen ihm tausend Gedanken durch den Kopf. Es ging ihm schlecht, und er fühlte sich außerstande zu arbeiten, was bis dato noch niemals passiert war. Er gab Anweisung, keine Telefonate durchzustellen und ihn nicht zu stören. Wo war sein Sohn? Wer hatte ihn entführt? Er überlegte lange und war sich sicher: Es ging nicht um Jacob, es ging um seine Frau, auch wenn er den Schwachsinn mit dem Märchen nicht verstand. Die alte, längst vergessene Geschichte war mit einem Schlag wieder da. Seinem Sohn konnte er im Moment nicht helfen, darum kümmerte sich die Polizei. Aber er konnte seine Frau beschützen. Zuerst brauchte er Gewissheit, ob es auch so war, wie er vermutete.

      Er stand auf und drehte den Schlüssel im Schloss seiner Bürotür, er konnte keine Zeugen brauchen. Mit zitternden Händen wählte er die tschechische Telefonnummer, die er auswendig konnte.

      „Hier Winzl. Diesmal geht es nicht um Medikamente. Ich brauche in einem speziellen Fall Ihre Hilfe.“

      „Um was geht es?“

      „Um Matej Horak. Der Mann ist Ihnen ein Begriff?“

      „Natürlich.“

      „Es sieht so aus, als wäre er in Deutschland aufgetaucht. Ich brauche Informationen.“

      „Verstehe. Das wird nicht billig.“

      „Geld spielt keine Rolle.“

      „Das höre ich gern. Ich kümmere mich darum und melde mich wieder.“

      Winzl legte auf. Wenn es wirklich so war, dass Horak sie aufgespürt hatte und sich hier in der Gegend aufhielt, dann würde er es sehr bald erfahren.

      4.

      Leo und Hans fuhren auf den Gnadenhof bei Winhöring und wurden sofort von drei Eseln und einem alten Gaul begrüßt, die neugierig ihre Köpfe über den Holzzaun reckten. Aus dem alten Bauernhaus trat ein älterer Mann zu ihnen. Hans und Leo wiesen sich aus.

      „Ich bin Stephan Koch, ich führe den Gnadenhof zusammen mit drei Mitarbeitern und acht Freiwilligen. Was will die Kriminalpolizei? Hat uns wieder jemand angezeigt?“

      „Nicht, dass ich wüsste. Wir sind aus einem anderen Grund hier. Ist Ihnen in letzter Zeit irgendetwas Merkwürdiges aufgefallen? Bekamen Sie seltsame Post? Wurde irgendwo ein Zettel angebracht?“

      „Deshalb sind Sie hier? Dann war dieser Zettel, den ich gestern an der Haustür fand, doch kein dummer Scherz?“

      „Haben Sie den noch?“

      „Habe ich in die Mülltonne geworfen. Wenn ich gewusst hätte, dass sich die Polizei dafür interessiert…“

      „Wo ist die Mülltonne?“

      „Dort hinten. Wollen Sie die etwa durchsuchen?“

      „Es wird uns nichts anderes übrig bleiben.“

      Stephan Koch sah den beiden Kriminalbeamten hinterher. Obwohl sein Job auf dem Gnadenhof ein richtiger Knochenjob war, der nie endete, beneidete er die beiden Polizisten nicht um ihren Job; er kannte den Inhalt der Mülltonne.

      Leo und Hans wühlten mit Handschuhen in der stinkenden, randvollen Mülltonne. Beide schimpften und fluchten, denn die Leute hier benutzten keine Müllbeutel, sondern warfen alles ohne Verpackung in die Tonne.

      „Ich habe ihn,“ rief Leo, der schon mehrmals mit einem Würgereiz zu kämpfen hatte. Er hielt einen mit Essensresten und sonstigen undefinierbaren Stoffen durchtränkten Zettel in die Luft. Hans nahm eine Tüte und beide versuchten, den Zettel ohne Schaden darin zu verstauen.

      „Da kann man kaum etwas lesen,“ sagte Hans und hob den Zettel in der Luft hin und her. „Vielleicht kann Fuchs was damit anfangen.“

      Leo informierte Tatjana.

      „Da habt ihr ja Glück gehabt, Werner und ich sind völlig umsonst nach Landshut gefahren. Dazu mussten wir uns von dem unfreundlichen Personal auch noch dumm anquatschen lassen. Die haben uns für vollkommen verrückt gehalten und haben uns beschimpft. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätten uns vom Hof gejagt.“ Werner hörte die Worte seiner Kollegin Tatjana und schüttelte den Kopf. Wenn sie nicht so plump und unfreundlich vorgegangen wäre, hätte das Personal ganz sicher anders reagiert. Tatjana hatte die Angewohnheit, immer mit der Tür ins Haus zu fallen und alle vor den Kopf zu stoßen, was nicht jedem gefiel. Sie war selbst schuld an dem Verhalten!

      „Wir bringen den Zettel zu Fuchs,“ sagte Hans, der sich in seinen stinkenden Klamotten sehr unwohl fühlte.

      „Auch wenn es schon spät ist, schlage ich vor, dass wir uns die Freunde von Jacob Winzl vornehmen.“

      „Meinetwegen. Wie sollen wir vorgehen?“

      „Ich nehme an, dass wir die meisten in dieser Münchner Disco antreffen. Der Rest dürfte zuhause sein, es sind Semesterferien. Ich würde freiwillig die Disco übernehmen.“ Tatjana hatte sich noch keine Gedanken darüber gemacht, welchen Part sie übernehmen wollte, es war ihr auch egal. Befragungen sind alle gleich, wobei die Lokalität keine Rolle spielte.

      Hans widersprach sofort. Tatjana konnte er sich beim besten Willen nicht in einer Nobeldisco vorstellen.

      „Die Disco würde ich zusammen mit Leo übernehmen,“ sagte Hans. „natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast. Leo und ich stinken wie die Pest und müssen uns erst restaurieren. Dann fahren wir in aller Gemütsruhe nach München. Vor 23.00 Uhr dürfte im Point X nicht viel los sein. Das wird eine kurze Nacht.“

      Tatjana wollte anfänglich


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