Zwei Kontinente auf Reisen. Jenny Karpe

Zwei Kontinente auf Reisen - Jenny Karpe


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Seite zu gehen, als dieser nach hinten sackte.

      »Ähm, Khan Elliott?«, fragte sie, um kein weiteres Aufsehen zu erregen. »Ist alles in Ordnung?«

      Mit einem lauten Schnarchen beantwortete Elliott ihre Frage. Am liebsten hätte Kira ihm ins Gesicht geschlagen, und auch Aaron stand vor Empörung der Mund offen. Was für eine Unverschämtheit, einfach einzuschlafen! Entnervt standen sie auf und gingen zu der Basílissa, die nur wenige Schritte von der Terrasse entfernt stand.

      Die Angst ließ nicht lange auf sich warten, dieses Mal spürte selbst Kira, was in Aaron vorging. Er wurde bleich und stolperte zitternd voran. Kira griff nach seiner Hand und sah ihn beunruhigt an, während die Basílissa vom Geschehen abgelenkt wurde.

      »Etwas weiter nach links!« Augustins Stimme klang dumpf und fern, seine Befehle waren höflich. »Und geht das bitte etwas ruhiger? Ein Foto habe ich schon verschossen!«

      »Wie sieht es aus?!«, rief Kira und drückte Aarons Hand fester. Hana hielt ihr reflexartig den Mund zu, während sie über das Mädchen schmunzelte.

      »Du bist wirklich ungeduldig, kleine Amerikanerin«, stellte sie fest und löste ihre Hand wieder. »Aber das wundert mich nicht, Elliott ist genauso.«

      Ihr Blick schweifte auf der Suche nach dem Khan ab, als hätte sie sich gerade erst an dessen Anwesenheit erinnert. Sie entdeckte ihn auf der Terrasse, mit dem offenen Mund gen Himmel.

      Hana erbleichte.

      »Kira, Aaron – tut mir einen Gefallen«, sagte sie langsam und griff nach ihrem Handgelenk, als fühlte sie ihren Puls.

      »Was ist denn?«, hakte Kira besorgt nach. Auch Aaron wurde hellhörig, sein Händedruck wurde fester.

      »Es ist alles in Ordnung, aber ich muss mich kurz hinsetzen, ja? Macht euch keine Sorgen.« Mit diesen Worten sank die ruanische Herrscherin in sich zusammen. Aaron und Kira starrten sie mit offenem Mund an.

      »W-was war das denn? Ist sie tot?«, brachte Aaron heiser hervor. Er beugte sich vor, wobei ihm offenbar immer noch schwindelig war.

      »Quatsch«, kommentierte Kira und machte eine zustimmende Bewegung mit ihrer freien Hand, als ein zartes Schnarchen von Hana zu hören war.

      »Das ist seltsam, Elliott ist eben auch einfach eingepennt«, meinte Aaron. »Schlafen die alle nicht genug?«

      Kira schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich glaube, es ist etwas Anderes«, meinte sie. »Vielleicht eine Krankheit oder so etwas.« Eilig hob sie ihren Arm und verdeckte ihren Mund mit dem Ärmel der Strickjacke. Aaron schüttelte etwas orientierungslos den Kopf und beugte sich zu der Herrscherin hinunter. Bis auf ihren Brustkorb und den Boden unter seinen Füßen bewegte sich anscheinend nichts.

      »Er sagte, wir sollen ihn weiter herunterlassen!«, fluchte einer der Männer. Erschrocken sahen Kira und Aaron auf. Einer der Amerikaner – er hatte die größten Muskeln und die wenigsten Haare – diskutierte angeregt mit einem ehemaligen Profiboxer, der auf der ruanischen Seite den Gottesdienst leitete.

      »Das ist Blödsinn, er hat gerade erst gerufen, dass wir anhalten sollen!«

      »Hast du etwas an den Ohren? Das war bevor er hier hochbrüllte, dass er noch weiter runter will. Warum hat euer blödes Fliegengewicht kein Walkie-Talkie dabei, hä? Ich lasse mich nicht gerne von euch anschreien!«

      »Ach, halt die Klappe!«, entgegnete der Ruaner und stampfte wütend auf, während er eine Hand vom Seil löste und wild damit gestikulierte. Im selben Moment erzitterte der Erdboden.

      »Halt verdammt nochmal deine dummen Füße still, du Idiot!«, fluchte einer der Amerikaner. Noch ehe Protest aufkommen konnte, erzitterte die Erde erneut, mit einer völlig anderen Intensität.

      Kira versuchte, Aaron zurück in den halbwegs sicheren Bereich der Klippe zu bringen, doch er glich einer Marmorstatue.

      »Papa!«, keuchte er atemlos. In dem Chaos aus Männern konnte er erahnen, dass einige das Seil losgelassen hatten, andere klammerten sich daran, als wären sie diejenigen, deren Leben einzig und allein daran hing. Das Beben wollte nicht aufhören, rüttelte sie weiter durch.

      Vor Kiras inneren Auge zerschmetterte Augustin an der Insel. Fieberhaft sah sie sich nach einer Möglichkeit um, festen Halt zu finden.

      »Sieh mal, die beiden schlafen immer noch!«, rief sie aufgeregt und deutete auf Hana und Elliott, die sich trotz der Bewegungen des Bodens nicht aufrichteten, sondern friedlich weiterschliefen. Aaron hörte gar nicht zu. Er versuchte, die Männer zu erkennen, die das Seil hielten, und warf einen prüfenden Blick zu der Litfaßsäule. Die Tatsache, dass sie sich nicht gerührt hatte, beruhigte die beiden nur so lange, bis Kira und Aaron die fehlenden Seile entdeckten. Plötzlich vernahmen sie ein peitschendes Geräusch, gefolgt von einem Aufschrei.

      »PAPA!?«

      Aaron stürzte zur Kante und bahnte sich atemlos einen Weg durch die Männer, die entsetzt am Boden lagen.

      »Verdammt, wie konnte das passieren?«, rief jemand. Fassungslos blickte er in die Tiefe und dann in seine leeren Finger. »Wieso haben wir losgelassen?«

      Aaron sank auf die Knie, die Erde schüttelte seine Knochen durch. Kira folgte ihm, erreichte die Kante mit einer schrecklichen Ahnung. Die Welt um sie herum wurde zu einem einzigen Tunnel, an dessen Ende Aaron saß und weinte. Schmerz zuckte durch ihre kleine Brust, drückte ihre Lungenflügel zusammen.

      »NEIN! P-PAPA!«, rief Aaron aus vollster Kehle. Er beugte sich über die Kante und schreckte sofort zurück. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht, sogar mehr als das. Kira kam es vor, als hätte Aaron seinen Körper verlassen. Einzig das unaufhörliche Zittern bewies, dass er noch lebte. Kira konnte nicht anders, als ihn fest in die Arme zu schließen. Er war starr und kalt, kein Laut kam über seine Lippen.

      So plötzlich, wie das Beben begonnen hatte, hörte es wieder auf. Elliott und Hana stürmten aus dem Nichts zu den am Boden liegenden Männern, wobei Hana direkt zu Aaron und Kira eilte.

      »Es tut mir leid«, brachte sie hervor, als hätte sie den Sturz verhindern können. »Aaron, bitte entschuldige … wir hätten es niemals so weit kommen lassen dürfen.«

      Doch Aaron hörte nicht, versank in Kiras Armen und ergab sich endlich seinem Schmerz.

      ***

      Augustin fiel in die Fluten hinab. Sein Schrei war verstummt, kein Platschen war zu hören. Er spürte nicht einmal, wie das Wasser ihn umschloss und verschluckte.

      Es kam ihm vor, als wäre sein Leben schon lange vor dem Aufprall beendet gewesen. Als zöge es sich noch ein letztes Mal in die Länge, um den freien Fall zu genießen.

      Sein Leben flimmerte nicht vor seinem inneren Auge vorbei, für einen Moment wusste er nicht einmal, ob er je eines besessen hatte. Augustin war sich sicher, dass das nicht an den Mechaniken seines Geistes lag, sondern an den wenigen Höhepunkten seines Lebens.

      Seine Gedanken waren nur bei Aaron. Er dachte daran, wie er ihm das Laufen beigebracht hatte, an seine ersten Worte. An den fulminanten Schokoladendiebstahl, den Augustin nach Aarons Meinung immer noch nicht aufgeklärt hatte. An das schwarze Teleskop mit den weißen Punkten, das er ihm zum sechsten Geburtstag geschenkt hatte. An die Linsen für das kupferne Teleskop mit den türkisen Ranken, die nun für immer in dieser einen Schublade versteckt blieben würden. Der Schlüssel lag auf dem Tresen, dort hatte Augustin ihn erst heute Morgen gesehen. Er wünschte sich, dass er ihn mitgenommen hätte. Für einen schmerzlichen Augenblick begriff er, dass er keine Geheimnisse mit in den Tod nahm.

      Augustin hatte sein Leben lang meist das ausgesprochen, was er dachte, und was er für richtig hielt. Er hatte der ganzen Welt gezeigt, wie sehr er nach dem Tod von Aarons Mutter getrauert hatte. Er hatte Aaron nie ein Gefühl vorenthalten, ihn nie wirklich belogen. Bis auf dieses eine Mal.

      Doch er, der Idiot, hat den Schlüssel einfach auf dem Tresen liegen lassen.

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