Zwei Kontinente auf Reisen. Jenny Karpe

Zwei Kontinente auf Reisen - Jenny Karpe


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auf, während Elliott die amerikanischen Kinder über die Grenze winkte.

      »Was passiert denn jetzt?«, fragte Kira.

      »Es gab einen gemeinsamen Entscheid«, antwortete Elliott knapp.

      »Was soll das werden, Demokratie?«, fragte Aaron schnippisch. Er war so geladen, dass seine Wut zitternde Funken schlug. Plötzlich drehte sich Hana um und drängte ihre Wächter zur Seite. Auch die Fassaden zerstörter Häuser können das Echo einer Ohrfeige erzeugen.

      ***

      Augustins aufgebrachte Stimme war auch aus der Ferne gut zu verstehen.

      »Das ist eine ungeheure Frechheit!«, fluchte er, sobald er Khan Elliott und Basílissa Hana erblickte. »Warum müssen wir schon wieder die Freiheit unserer Kinder einschränken?«

      Hana zog Aaron an ihrer dünnen Hand wie eine wütende Mutter hinter sich her. Er hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Seine Wange schimmerte rot.

      Auf den ersten Blick sah es aus, als hätten sich die üblichen Streitsuchenden auf dem Marktplatz eingefunden. Alle Erwachsenen hielten sich an die weiße Linie, nur Augustin stand mit einem Bein auf der amerikanischen Seite.

      »Kannst du dich bitte zurück nach Ruan begeben, Augustin?«, bat Hana im Näherkommen.

      »Wieso, bin ich etwa ein Kind? Oder dürfen wir neuerdings auch nicht auf die andere Seite gehen?« Er hatte seine Brille abgenommen, hielt sie am Bügel fest und ließ sie unregelmäßig kreisen.

      »Du bist kein Kind, aber du führst dich definitiv wie eines auf«, knurrte Hana.

      »Ach, hör auf. Wenn hier etwas kindisch ist, dann diese Grenze.«

      Elliott trat energisch zwischen die beiden. »Genau aus diesem Grund habe ich euch alle hier versammelt! Volk von Amerika, Volk von Ruan – wir haben seit einer Woche eine Grenze. Im Großen und Ganzen scheinen sich die Verhältnisse in unserer Stadt verbessert zu haben.«

      Die meisten nickten, aber Augustin stöhnte und putzte entnervt die Brillengläser mit dem Ärmel seines Mantels.

      »Nur ein Teil unserer Bevölkerung scheint nicht besonders zufrieden zu sein. Besorgte Eltern sind zu mir gekommen, um sich über die Gemüter ihrer Kinder zu beschweren. Offenbar gibt es viel Streit zwischen Banden.« Elliott tippte sich versehentlich an den Cowboyhut, als er sich durch das Haar fahren wollte.

      »Natürlich gibt es Streit«, betonte Augustin seufzend. »Wer Kinder trennt, muss gar nicht lange darauf warten. Sag ihnen, dass sie besser sind als die anderen, und schon glauben sie es dir. Das ist es doch, was in den vergangenen Monaten mit unserer Insel geschehen ist.«

      Hana reckte ihren Kopf, um sich größer zu machen, als sie ohnehin schon war. Ihre Gewänder klimperten und ließen sie zwar ehrwürdig, aber ein wenig albern erscheinen. »Das muss ich verneinen. Die Fehde zwischen den Ruanern und Amerikanern ist uralt.«

      »Fehde? Uralt? Was für ein Blödsinn. Das Volk der Ruaner besteht gerade mal zweihundert Jahre!«

      Wäre Augustin nicht selbst ein Ruaner, hätte er mit diesen Worten eine Prügelei angezettelt. So erhielt er zustimmendes Raunen aus den Reihen seines Volkes.

      »Ich halte es für eine dumme Idee, die Grenze zu erhöhen«, schloss er.

      »Ihr wollt was?«, hakte Kira nach. »Die Grenze erhöhen?«

      »Ja. Die Linie reicht nicht aus, ihr überschreitet sie einfach«, erklärte Hana.

      »Ist ja nur Farbe«, kommentierte Raik mit seiner entspannten Brummstimme. Die Basílissa hielt inne und musterte ihn von oben bis unten.

      »Stimmt«, murmelte sie finster. »Ist ja nur Farbe.«

      Selbst Celia warf Raik nun einen wütenden Blick zu.

      »Also, was ist jetzt?«, meldete sich Augustin zu Wort. »Wollt ihr tatsächlich eine Mauer errichten, um die Kinder nicht mehr miteinander spielen zu lassen? Das ist albern! Sie sind fast ein Jahr auf der Insel umhergelaufen, dadurch ist nie ein Beben entstanden.« Er geriet allmählich in Rage. Mal verlagerte er sein Gewicht auf die eine Hälfte der Insel, mal auf die andere, als wollte er in der Mitte einer Wippe die Balance wahren.

      »Wir wissen nicht, wie unsere Insel aufgebaut ist«, erklärte Elliott ungeduldig. »Es kann jederzeit zum Ernstfall kommen. Du hast es mit eigenen Augen gesehen: Die Inseln können zusammenbrechen.«

      »Herrje, dann tun wir eben etwas dagegen! Wir müssen uns die Insel ansehen, sie stabilisieren!« Aarons Vater hatte seine Brille wieder aufgesetzt und gestikulierte unruhig mit den Händen.

      »Wie sollen wir uns die Insel anschauen, wenn wir nicht einmal eine Drohne oder einen Ballon besitzen, geschweige denn einen Helikopter?«, knurrte der Khan. Er trat wütend auf Augustin zu, ohne dabei die weiße Linie auf dem Boden außer Acht zu lassen. Plötzlich erzitterte der Boden wie eine schnurrende Katze. Einzelne Bürger schrien auf, die meisten schlugen die Hände über dem Kopf zusammen oder gingen instinktiv in Deckung.

      »Wir haben aber Seile und einen Freiwilligen«, sagte Augustin nachdrücklich. Khan Elliott brauchte einen Moment, um seine Worte zu verarbeiten. Atemlos starrte er ihn an.

      »Willst du damit sagen …«, begann er, runzelte die Stirn und sah sich hilfesuchend nach Hana um. Die sah ihn mit unheimlicher, nahezu stoischer Ruhe an. Mit ihrem Blick bedeutete sie dem Khan, ruhig zu bleiben, doch dessen Stimme schraubte sich noch weiter in die Höhe. »Augustin, willst du dich tatsächlich von der Insel abseilen!?«

      »Es würde ja sonst keiner tun.« Mit einem verschwörerischen Lächeln sah er zu Aaron und Kira herüber, die Seite an Seite standen. Nur die Grenze zu ihren Füßen trennte sie.

      »Hier sind schließlich nur …«, murmelte Augustin langsam, als buchstabierte er die Worte, »… feige Hühner.«

      Allumfassende Stille hielt Einzug, als hätte sie nur darauf gewartet. Nach all dem Lärm und den Diskussionen löste die Ruhe bei Kira ein seltsames Unbehagen aus. Die Basílissa war die Erste, die das Wort ergriff.

      »Das ist sehr mutig, Augustin, wirklich. Wie möchtest du dieses Vorhaben umsetzen?«

      Elliott fuhr erneut zu ihr herum und war noch ungläubiger als zuvor, wodurch ihm der Hut beinahe vom Kopf rutschte. Abermals antwortete die Basílissa mit einem harschen Blick.

      »Wir brauchen ein paar starke Männer, viele Seile und wenig Wind«, listete Augustin währenddessen auf. »Ich habe eine analoge Kamera in meinem Geschäft, vielleicht gelingt es mir, Fotos von der Insel unter unserer Stadt zu schießen.« Er streckte einen Finger in die Luft und befeuchtete ihn mit seiner Zunge. »Heute wird das nichts mehr, aber wir können bereits Seile zusammensuchen und die stärksten Leute auswählen.«

      Khan Elliott warf einen abschätzigen Blick auf die ruanischen Männer und verkniff sich offenbar einen Kommentar über den dürren Körperbau der meisten. Elliott kannte das alte amerikanische Problem der Fettleibigkeit nur zu gut, aber seit der Katastrophe hatten sich die Amerikaner besser ernährt. Die Mangelerscheinungen konnten bislang mit Pillen beseitigt werden, irgendwann würden die jedoch zur Neige gehen.

      »Betrachten wir das als gemeinsames Projekt der Zivilisationen Ruan und Amerika«, sprach Elliott gedämpft. »Wir haben beide großes Interesse daran, dass es gelingt. Meine starken Männer stehen dir zur Verfügung, Augustin.«

      Dieser runzelte die Stirn und verbeugte sich so leicht, dass es einem höhnischen Kommentar gleichkam.

      »Eines noch«, sagte Augustin schließlich und sah erneut zu Aaron und Kira. »Solange wir nicht wissen, wie unsere Insel aussieht, ist die Grenze ungültig.«

      Kapitel 05

      Vier Tage vergingen, bis der Wind ruhig genug war. Schließlich versammelten sich zwölf starke Männer an einem breiten Stück Kante. Ein anderes Dutzend wurde an das andere Ende der Insel geschickt. Khan Elliott hatte verkündet,


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