Zwei Kontinente auf Reisen. Jenny Karpe

Zwei Kontinente auf Reisen - Jenny Karpe


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die im Anschluss das Holz für den Wiederaufbau benötigen. Von jeder Art war ein Baum geblieben, verteilt über die gesamte Insel. Kira wusste, wo einige zu finden waren, die meisten waren viele Gehminuten entfernt. An heißen Tagen spannten die Völker daher große Sonnensegel zwischen den Ruinen auf, damit sie statt der Bäume Schatten spendeten.

      »Na, schau mal einer an!«

      Kira schreckte hoch und sah in das spitze Gesicht von Celia. Sie war schon elf Jahre alt und galt als das stärkste Mädchen Amerikas. Der Kopf mit den schulterlangen, akkurat geschnitten Haaren schaute über den Bambuszaun, der den Innenhof säumte. Für einen Augenblick hatte sie geglaubt, dass dort eine hungrige Krähe gelandet war, doch Celia war viel schlimmer.

      »Kiiira!«, flötete sie. »Magst du nicht mit uns spielen kommen?«

      Ihre dünnen, starken Finger spannten sich an der Kante des Zaunes, als wollte die Krähe sich davon abstoßen, um zu ihrem Nest zu fliegen.

      »Wir hätten dich so gerne dabei. Vor allem, seit du ein hübsches neues Spielzeug hast.« Von der anderen Seite drang Gekicher herüber.

      »Das ist kein Spielzeug«, sagte Kira hastig. Ihre Finger waren wie gelähmt, als sie nach dem Teleskop greifen und es unter ihrer Strickjacke verstecken wollten. Sie wusste, dass das kindisch war.

      In diesem Moment hüpfte Celias schwarzes Haar auf und ab. Sie holte kurz Schwung und zog sich mit einem Ruck am Zaun hoch. In einer fließenden Bewegung sprang sie hinüber und landete sicher wie eine Katze im Innenhof.

      »Bitte, Celia!«, flüsterte Kira zaghaft, auf der Suche nach einer glaubwürdigen Lüge. »Es gehört meinem Vater!«

      »Ist mir egal, wem es gehört.« Celia trat näher. Obwohl der Rest ihrer Bande feige hinter dem Zaun hocken blieb, war sie ebenso bedrohlich wie fünf starke Jungen. »Du bekommst schließlich mehr Ärger, wenn es deinem Vater gehört!«

      Mit diesen Worten streckte sie ungeduldig die Hand aus und machte eine vielsagende Bewegung mit ihrem Zeigefinger.

      »Verschwinde, mach schon! Oder i-ich rufe meine Eltern!« So entschlossen wie möglich stellte sich Kira vor sie und funkelte böse, doch Wut war nicht das einzige Gefühl, das in ihren Augen stand. Ohne es bemerkt zu haben, hatten sich Tränen angestaut, die nur auf den richtigen Moment warteten, um ihre Wangen herunterzulaufen. Kira wusste, dass Celia ihr das Teleskop wegnehmen würde.

      »PAPA!«, rief Kira über ihre Schulter. Als sie den Kopf zurückdrehte, griff Celia rabiat nach dem Teleskop und lachte. Das Schnarchen aus dem Wohnzimmer verstummte zwar, aber Kira wusste, dass es zu spät war. Ihre Finger rutschten ab und überließen Celia das kupferfarbene Gerät. Die Krähe sah das Teleskop nicht einmal an. Mit einem bösartigen Lächeln hob sie es und öffnete nacheinander ihre Finger.

      »Nein!«, rief Kira. Die Linse traf genau auf die hervorstehende Kante eines Pflastersteines und zerbrach mit einem fremdartigen, beängstigend lauten Knacken. Celia grinste, als sie Kiras Tränen fließen sah.

      »Tja«, murmelte sie, zuckte mit den Schultern und war wenige Bewegungen darauf hinter dem Bambuszaun verschwunden.

      Kira ließ sich auf den Boden sinken und versuchte, nicht laut zu weinen. Sie hob das Teleskop auf, aber drehte es nicht, denn sie wusste, dass es zerstört war. Ihr Geschenk von Augustin, dem tapferen Vater des feigen Huhnes. Ihrem Lebensretter.

      In diesem Moment wurde die Tür zum Innenhof zur Seite geschoben, Eugene tauchte darin auf.

      »Hast du gerufen? Warum weinst du?« Er blieb stehen, um die Lage zu überblicken, dann beugte er sich besorgt zu ihr herunter und streichelte über Kiras Rücken. »Ach, Kind, hast du es fallen gelassen? Du bist aber auch ungeschickt.«

      Kira schüttelte unter Tränen den Kopf und wagte es nicht, von Celia zu erzählen.

      »Ist alles nur halb so wild«, meinte Eugene und hob sie hoch. Kira umklammerte das Teleskop und versuchte, nicht daran zu denken, wie die zersplitterte Linse aussah.

      »Kannst du es reparieren, Papa?«

      Eugene lachte kurz auf. »Hach, du bist süß. Du weißt doch, dass ich zwei linke Hände habe.«

      Das stimmte. Überall im Haus, wo Ausbesserungen nötig waren, sah es aus, als wäre ein kleiner Junge mit seinem ersten Werkzeugkasten aktiv gewesen. Eugene schaffte es nicht einmal, ein Bild gerade aufzuhängen. Er war der Meinung, dass zwei Nägel dafür nicht ausreichten und hämmerte oft so lange Löcher in die Wände, bis Emilia ihm den Hammer wegnahm und ihn fluchend anwies, Mörtel und Farbe zu besorgen.

      Diese Tatsache bekümmerte Kira so sehr, dass sie kurz überlegte, ihrem Vater das Teleskop an den Kopf zu werfen und ihn dafür anzuschreien, ein schlechter, unfähiger Mensch zu sein. Er war vor der Katastrophe ein Immobilienmakler gewesen, ihn brauchte mittlerweile niemand mehr. Die Leute bezogen die Häuser, die am wenigsten zerstört waren, und stahlen sich Möbel und Ersatzteile aus den Ruinen. Manche Häuser waren erst durch die Plünderungen unbewohnbar geworden.

      Seit einem halben Jahr arbeitete Eugene jede Nacht als Wachmann in einem Lagerhaus für Lebensmittel, wodurch er tagsüber meistens im Bett, in seinem samtblauen Lieblingssessel oder auf dem Marktplatz bei einer Diskussion zu finden war. Nun trug er Kira ins Haus und redete weiter auf sie ein, doch sie hörte nicht mehr zu.

      Ihr Vater setzte sie mitten im Wohnzimmer ab und streichelte ihr unbeholfen über den Kopf, dann wartete er darauf, dass Kira in ihr Zimmer ging. Schließlich rümpfte sie die Nase, machte kehrt und lief in die Küche.

      »Mama«, flüsterte sie. »Mama!«

      Emilia Solomon saß am Küchentisch und löste ein Kreuzworträtsel, während auf ihrem Gasherd ein Topf mit Tomaten-Kartoffelsuppe köchelte. Ihre langen, hellroten Haare waren ihr ins Gesicht gefallen, wo unzählige Sommersprossen gezählt werden wollten. Kira wusste, dass sie vier Punkte mehr als ihre Mutter besaß. Auf der Fensterbank hinter ihr standen in bunten Töpfen Emilias letzte Kräuter, daneben ruhte eine winzige Gießkanne. Das einzige Geräusch war ein sanftes Blubbern.

      Ihre Augen hellten sich auf, als Emilia sie erblickte. Sie senkte den Stift und zeigte innerhalb weniger Sekunden Freude und Besorgnis zugleich. Schon schob sie den Stuhl zurück und eilte zu Kira, die ihre Tränen immer noch nicht aufhalten konnte.

      »Schatz! Was ist denn passiert?«

      »Die blöde Celia hat mein Teleskop kaputt gemacht!«, wimmerte sie und hielt ihr das leicht zerbeulte Metall entgegen. Ihre Mutter runzelte die Stirn und ignorierte das Teleskop völlig.

      »Celia? Ich dachte, du warst nicht auf der Straße, Schatz.«

      »Sie ist über den Zaun geklettert, die blöde Krähe. Ich will nicht mehr draußen spielen, Mama!«

      Emilia schüttelte den Kopf, nahm ihr mit einer galanten Bewegung das Teleskop ab und schloss ihre Tochter in die Arme.

      »Es wird alles gut, Kira. Ich wurde früher oft geärgert, und sieh mich an. Mir geht es gut. Deine Wut wird verfliegen.«

      »Die hat mein Teleskop kaputt gemacht!«, zeterte Kira und trommelte mit der flachen Hand auf dem Rücken ihrer Mutter herum. »Diese fiese Krähe hat mein Teleskop einfach kaputt gemacht!«

      »Ich habe schon einmal mit Celias Mutter über ihr Verhalten gesprochen, mehr kann ich nicht tun«, meinte Emilia hilflos. »Soll ich etwa Celia zur Rede stellen und züchtigen?« Sie sagte das, als käme es überhaupt nicht infrage.

      Kira blähte die Nasenflügel. »Ich fände das gut.«

      »Och, Schatz …« Emilia schloss sie fester in die Arme. »Die Welt kann ungerecht sein. Aber auf unserer Seite der Grenze müssen wir zusammenhalten, das weißt du doch.«

      Sie verstand das alles falsch, dachte Kira. So lieb sie ihre Mutter hatte, manchmal sagte sie dumme Dinge.

      »Mama, kannst du es reparieren?«

      Emilia löste die Umarmung und warf einen genaueren Blick auf das Teleskop. Ihre Augen verengten sich plötzlich.


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