Zwei Kontinente auf Reisen. Jenny Karpe

Zwei Kontinente auf Reisen - Jenny Karpe


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      Kira schüttelte den Kopf und presste die Lippen aufeinander. Mit Eugene hatte sie abgemacht, dass sie nichts von dem Beinahe-Absturz erzählen wollten, Emilia würde sich nur unnötig aufregen. Andererseits saß ihr der Schreck so tief in den Knochen, dass sie in der vergangenen Woche nicht einmal am Markttag auf die Straße gegangen war.

      »Ich habe einen Jungen getroffen«, begann sie.

      »Oh«, machte Emilia erfreut. »Einen Freund?«

      »Einen Ruaner.«

      »Oh«, wiederholte die Mutter, dieses Mal deutlich enttäuschter. »Wie das denn?«

      »Ganz zufällig. Er wollte nicht mehr weggehen. Er heißt Aaron und hat einen Papa namens Augustin.«

      Kurz sah Emilia aus, als würde ihr der Name etwas sagen. Sie öffnete die Lippen ganz leicht und atmete tief ein. »Von ihm hast du das Teleskop bekommen?«

      »Ja, er hat es mir einfach geschenkt! Er sagt, damit kann ich Dinge beobachten, die ganz weit weg sind. Die anderen Inseln zum Beispiel, oder die Sterne! Kennst du Aarons Papa?«

      »Er ist der Optiker.«

      »Was ist ein Optiker?«

      »Ein Mann, der sich mit Gläsern auskennt. Von Brillen zum Beispiel, oder von deinem Teleskop. Er ist der Einzige auf der Insel, der das macht.«

      Noch ehe sie diese Worte ausgesprochen hatte, zuckten Emilias Finger, als wollten sie vor ihren Mund springen und den letzten Satz verhindern. Doch schon strahlten sie zwei bettelnde Augen an.

      »Dann kann Augustin das Teleskop reparieren, oder? Oder? Bitte, Mama, lass mich zu Augustin gehen!«

      »Du weißt, dass du nicht auf die andere Seite der Insel gehen darfst, Schatz. Allen Kindern wurde es verboten, und das ist auch gut so.«

      »Aber du darfst!«

      »Ich werde nicht zu Augustin gehen.«

      »Warum denn nicht?« In Kiras wütend blitzenden Augen sammelten sich schon wieder Tränen. »Ist es dir egal, was mit dem Teleskop ist?«

      Emilia schüttelte den Kopf. »Ich werde deinen Vater bitten, sich darum zu kümmern. Ich kann den Herd nicht unbeaufsichtigt lassen, Schatz.«

      Kira nickte eifrig und steckte ihren Kopf aus der Küchentür. Im Wohnzimmer lag Eugene in seinem Sessel und war offenbar gerade erst eingeschlafen.

      »Mist«, flüsterte sie wütend. »Als ob der sich heute noch um mich kümmert!«

      Emilia machte ein betroffenes Gesicht. »Gedulde dich ein wenig.«

      Aber Kira war längst durch die Stube gestiefelt. Wenn es niemanden sonst scherte, musste sie eben selbst auf die ruanische Seite gehen.

      Kapitel 03

      Wenn das Teleskop nicht kaputt gewesen wäre, hätte Kira keinen Gedanken daran verschwendet, die Grenze zu überqueren. In der amerikanischen Hälfte gab es genügend Orte, an denen sie ungestört spielen konnte – zumindest, solange Celia und ihre Freunde nicht in der Nähe waren.

      Es war so früh am Morgen, dass die Sterne noch nicht ganz verschwunden waren. Wie ein galaktisches Band spannten sie sich über die Insel. In der allumfassenden Stille war nur das entfernte Rauschen des Ozeans zu hören. Manchmal hatte Kira das Gefühl, dass er die Insel fest umschloss und unentwegt versuchte, an ihr emporzuklimmen. Sie stellte sich vor, wie die Wassermassen bei dem Versuch immer wieder abrutschten. Die Insel hatte keinen Namen, denn die Völker hatten sich nie auf einen einigen können. Für Khan Elliott war dies Amerika, für Basílissa Hana war es Ruan. Manche behaupteten, dass auch das Gestein der Insel aus zwei Kontinenten geformt war.

      Kira erinnerte sich kaum an die Katastrophe. Ihre Mutter sagte immer, dass die meisten Menschen schlimme Erinnerungen verdrängten, und dass sie froh darüber sein sollte.

      Mit einem Lederbeutel, in dem sie das Teleskop und einige Münzen verstaut hatte, um Augustin zu bezahlen, stieg sie die dunkle Treppe hinunter. Eugene war auf der Arbeit und Emilia schlief. Sie ließ sich nicht leicht wecken, allerdings wollte Kira kein Risiko eingehen. Als sie das untere Ende der Treppe erreicht hatte, atmete sie erleichtert auf. Breit grinsend streifte sie ihre Schuhe über und ließ die Haustür sanft ins Schloss einrasten. Die Tür zum Innenhof hatte sie schon am Abend aufgelassen, da sie keinen Schlüssel für das Haus besaß. Wenn Celia es schaffte, über den Bambuszaun zu klettern, schaffte Kira das auch.

      Gebannt blieb sie stehen und blickte die Straße hinunter. Keine einzige Laterne brannte, dazu fehlte schon seit Monaten der Strom. Ohnehin sollte niemand zu dieser Uhrzeit auf den Straßen umherirren. Kira überlegte, dass es trotzdem ganz gut wäre, zumindest ein paar Lichter anzuschalten – dann würde niemand aus Versehen vom Rand der Insel fallen.

      Die Gasse zum Marktplatz war nachtblau und schummrig, trotzdem keimte in ihrem Inneren Wärme auf. Es kam ihr nicht vor, als würde sie etwas Verbotenes tun.

      Die Luft war abgekühlt, der Ozean rauschte in der Ferne und den Ohren. Sie hatte ihre flachen Schuhe angezogen, damit sie niemanden mit dem Geräusch der Absätze aufweckte. Ihre Mutter liebte es, wenn sie schöne Lackschuhe trug, obwohl Kira sie bei jeder Gelegenheit zerkratzte und beschmutzte.

      Sie trat auf den Marktplatz und sah sich angestrengt um. In den Schatten waren weder Wachleute noch die Betreiber der Marktstände zu sehen. In einigen Stunden würden sie kommen, um ihre wenigen Waren für den neuen Tag vorzubereiten.

      Kira bemerkte erst, dass sie die Grenze übertreten hatte, als sie sich nach ihr umdrehte. Sie war mitten über den Platz gegangen und blieb nicht stehen.

      Die Insel war nicht allzu groß. Kira wusste, dass sie Augustins Geschäft schon einmal gesehen hatte, allerdings konnte sie sich kaum an den genauen Standort erinnern. Sie beschloss, eine kleine Runde durch die Stadt zu drehen, und betrat eine Gasse, die auf der rechten Seite des Platzes tiefer in die Häuserschluchten der Ruaner führte. Zu dieser Uhrzeit waren die Ruinen ziemlich unheimlich. Der Wind bewegte die zerschlagenen Fenster mit unsichtbaren Händen, alles knarrte und schien zu leben. Bunte Tücher hingen über der Straße, sie wehten wie Gespenster. Kira folgte den Gassen an einigen halbwegs intakten Wohnhäusern vorbei, bis sie in einer langen Ladenstraße endeten. Früher waren diese Geschäfte voller Leben, heute waren sie verwaist. Die Ladenbesitzer hatten die Innenleben geplündert, um aus ihnen Stände für den Markt zu bauen. Kiras Herz wummerte, trotzdem blieb sie nicht stehen.

      Zersprungene Leuchtreklame warb für einen vergangenen Sommerschlussverkauf und die Schuhkollektion einer ihr völlig unbekannten Prominenten namens Debra Hemingway. Von einem gigantischen Plakat sah diese Frau auf sie herab, ihr bleiches Gesicht durchbrach die Nacht wie ein mageres Monster. Nur die Wangen waren aufgespritzt, und ihre Lippen glühten förmlich. Sie hatte modifizierte, hellblaue Augen und trug trotzdem eine topmodische Brille, was Kira absurd vorkam. Sie wusste, dass die Modifikation dafür sorgen sollte, dass sie keine Brille mehr benötigte, aber vor der Katastrophe waren runde Brillen bei allen der letzte Schrei gewesen. Nirgendwo auf dem Plakat war ein Schuh der angepriesenen Kollektion zu sehen.

      Kira wappnete sich mit einem Lächeln gegen das Model und zog kopfschüttelnd daran vorbei, um schließlich in der Mitte der Ladenstraße stehen zu bleiben. Schuhe, Bücher, eine Apotheke … sie ließ den Blick schweifen, bis sie das große Drahtmodell einer Brille an einem der Häuser entdeckte. Zufrieden näherte sie sich dem Schaufenster. Darin lagen auf flachen Regalen Sehhilfen, die meisten von ihnen hatten kreisrunde Gläser. Eine Brille mit eckigen Gläsern zu bekommen war seit der Katastrophe schwer, aber bei Weitem nicht das größte Problem der Bevölkerung.

      Ihr Blick fiel auf einen eigenartigen Kasten, der inmitten der Brillen auf einem hölzernen Quader thronte. Es hatte einen runzeligen Schlauch, der sie an eine Ziehharmonika erinnerte, und besaß nur eine Linse. War das auch ein Teleskop?

      Kira presste ihre Nase gegen die Scheibe, konnte dadurch jedoch nicht besser sehen. Dafür fiel ihr etwas Anderes auf.

      »Oh«, machte


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