Zwei Kontinente auf Reisen. Jenny Karpe
steinernen Pilzes war beinahe verschwunden. »Wir müssen sofort zum Marktplatz, Kinder.«
Schon hatte er sowohl Aaron als auch Kira an den Händen gepackt. Das Mädchen klammerte sich an ihr Geschenk und schluchzte leise. Blut rann erneut an ihrem Bein herunter und wurde erst am unteren Ende von dem gummilosen Strumpf aufgehalten. Der Weg zum Marktplatz war kurz, führte jedoch um acht Häuserecken herum. Das alte Kopfsteinpflaster wies Löcher auf, in denen sich Regenwasser sammelte. Es war der erste Regen seit Monaten gewesen und hatte die Streitigkeiten ausgelöst. Die Ruaner waren überzeugt, dass die Amerikaner ihr Wasser stahlen – und umgekehrt.
»Marv hat uns gewarnt«, keuchte Augustin. »Die anderen wollten ihm nicht glauben, zum Glück vertraue ich den Freunden meines Sohnes.«
»Was werden die Erwachsenen tun?«, wimmerte Kira.
»Sich aufregen«, antworteten Augustin und Aaron wie aus einem Mund. Sie liefen durch einen halb zerstörten Bogen, der sich zwischen zwei efeubedeckten Häusern spannte. Dahinter lag der ovale Marktplatz der Insel, der von alten Gebäuden gesäumt war. Mehr als die Hälfte davon war eingestürzt, Bretter und Steine stapelten sich vor herausgebrochenen Türen. Die lauten Stimmen der Männer echoten hundertfach über das Pflaster. Flüche quollen wie blubbernder Schlamm aus der Menge.
Geradeaus ragte ein silberner Turm in die Luft, dessen Spitze violett im Abendlicht schimmerte. Davor waren die schwelenden Schornsteine einer verletzten Stadt zu sehen. Die Bretterbuden auf dem Platz waren verschlossen, denn heute war niemand hergekommen, um einzukaufen. Obwohl die Schatten länger wurden, wollte offenbar keine der beiden Parteien den Streit vertagen.
»Der Junge hatte recht!«, verkündete Augustin laut. Vier Dutzend Erwachsene drehten gleichzeitig die Köpfe. Für einen Moment sah Augustin aus, als wäre er über diese Reaktion überrascht.
»Was soll das heißen?« Aus der Menge trat ein hochgewachsener, blonder Mann hervor, der den Gang eines Hahns besaß.
»Dass ich recht hatte, Khan Elliott!«, rief Marv, der sich irgendwo im Gedränge verbarg. »Die andere Insel bricht auseinander wie ein rostiges Schiff!«
Der blonde Mann strich mit einer Handbewegung sein glänzendes Haar zurück und betrachtete Augustin und die beiden Kinder aus zusammengekniffenen Augen. Sein Fuß wippte unruhig auf und nieder.
»Kira!«, rief eine weitere Stimme aus der Menge. Ein fülliger Mann bahnte sich einen Weg durch die Menschen und stolperte zu dem Mädchen. Eugene Solomon entriss sie ihrem Retter so ruckartig, dass Kira Mühe hatte, das Teleskop festzuhalten. Mit einem feindseligen Blick, der einer ungeduldigen Schlange gleichkam, taktierte ihr Vater den Ruaner und wollte gerade einen abschätzigen Kommentar ablassen, als Augustin den Kopf schüttelte und beharrlich weitersprach.
»Khan Elliott, es ist wahr«, verkündete er. »Sie können selbst zu dem Vorsprung am Ende dieser Gasse gehen und es überprüfen. Auf dem Ozean zerbricht eine Insel.«
Ein Raunen ging durch die Anwesenden, dann wurde es still. Ein fernes Grollen war zu vernehmen, ähnlich eines nahenden Gewitters. Einige legten den Kopf in den Nacken, konnten jedoch nur vereinzelte Wolken am rot leuchtenden Himmel erkennen.
»Das ist die Insel«, beharrte Augustin. In seinem Blick glomm Wut auf. »Geht sie euch ansehen, na los!«
Für wenige Sekunden hielten alle inne, dann kam Bewegung in die Menge. Sowohl Ruaner als auch Amerikaner liefen auf die kleine Gasse zu, während Kira in Eugenes Armen warten musste. Ihr Vater blieb stehen und wetterte leise vor sich hin. Erneut flogen derbe Flüche durch die Luft. Ein Amerikaner fiel keuchend zu Boden, als ihn eine beleibte Ruanerin mit beiden Händen vor seine Brust stieß. Ein junger Amerikaner mit ungeschickt kombinierter Kleidung, bestehend aus einer spiegelnden Sonnenbrille, Rollkragenpullover und einer braunen Cordhose, zückte ein Jagdmesser, das die gesamte Menge erstarren ließ. In diesem Moment gab der Boden unter ihren Füßen ein beunruhigendes Geräusch von sich. Es klang, als glitt ein Elefant eine zu enge Rutsche hinunter.
»Sofort stehen bleiben, allesamt!«, fluchte Khan Elliott. Er richtete erneut seine Frisur, obwohl sich seit dem letzten Mal rein gar nichts verändert hatte. »Wir können nicht gleichzeitig dorthin gehen, es würde die Insel kippen lassen.«
»Das ist idiotisch, warum sollten wir kippen?«, rief jemand. Ein anderer brüllte: »Du hast es sogar selbst bemerkt, dämlicher Amerikaner!«
»Ruhe jetzt!« Khan Elliott fuchtelte mit den Händen in der Luft herum, als wolle er auf diese Weise eine Biene verscheuchen. »Ich gehe allein nachsehen.«
»Das kannst du vergessen!« Eine glasklare Stimme erhob sich und zerschnitt die Menge wie ein heißes Messer. »Du glaubst doch nicht, dass die Amerikaner hier das Sagen haben, oder?«
Basílissa Hana von Ruan trat hervor, ihr blondes, wildes Haar zu unzähligen Zöpfen geflochten. Sie trug einen bodenlangen, dunkelgrünen Rock mit so starken Falten, dass man sich daran schneiden konnte. Der Khan und die Basílissa schienen aus zwei völlig unterschiedlichen Epochen zu stammen, und doch gingen sie demselben Beruf nach: Sie waren die Herrscher ihrer winzigen Völker.
»Ich meinte, dass ich als einziger Amerikaner nachsehen werde«, korrigierte sich Elliott kläglich. »Hana, du kannst natürlich mitkommen.«
»Das will ich wohl meinen.«
Die Herrscherin der ruanischen Bevölkerung erhielt vereinzelte Jubelrufe. Sie trat zu dem Khan und warf einen gefälligen Blick über ihre Schulter. Niemand wagte es, zu widersprechen. Vereinzelt gingen die Bürger zurück an den Platz, an dem sie vor dem gemeinsamen Aufbruch gestanden hatten, offenbar aus Angst, die Insel durch ihre bloße Anwesenheit erneut zu erschüttern. Der Khan und die Basílissa wandten ihrem Volk den Rücken zu und verschwanden leise diskutierend zwischen den Häusern.
»Wie kann es sein, dass wir kippen? Hier ist nicht der Mittelpunkt der Insel, oder?«, rief ein amerikanischer Jugendlicher. Er deutete anklagend auf den silbernen Turm, der aus den größtenteils zerstörten Häusern ragte. »Der Tower ist unser Mittelpunkt, er hat schließlich das Feld in einem gleichmäßigen Radius erstellt!«
»Was du nicht sagst«, kommentierte eine Ruanerin spottend. »Aber du vergisst, dass die Häuser und Hügel an unterschiedlichen Orten zu finden sind. Das hier ist kein Teller, auf dem alle Kartoffeln gleichmäßig verteilt sind, verstehst du das nicht?«
Der Jugendliche hob spöttisch eine Augenbraue und sah aus, als wäre es die Frau, die dringend mit einer Kartoffel verglichen werden musste. Noch ehe er den Mund öffnen konnte, bebte der Boden erneut. Alle hielten inne, einige zogen ihre Arme eng an die zitternden Körper.
»Oh je, oh je!«, rief eine Frau, die mit wehendem Haar und laut klackernden Schuhen auf der amerikanischen Seite verschwand.
»Es wird Zeit, dass die Grenze gezogen wird«, rief jemand lautstark aus der Menge.
»Ja, dann muss ich dich nicht mehr ertragen, Findus!«
»H-hört doch mal auf zu streiten!« Kira wand sich in den Armen ihres Vaters und sah aus, als würde sie die Dickköpfe jeden Moment wie ein übermütiger, aber wütender Welpe anspringen.
»Kira, sei still!«, zischte Eugene, der sie nun noch stärker festhielt. »Benimm dich!«
»Sie hat recht.« Augustin trat an seine Seite und zwinkerte Kira zu. »Die Kinder sind wenigstens vernünftig.«
»Hören Sie auf, meine Tochter anzustarren«, giftete Eugene und drehte sich von Augustin weg, als würde er sein liebstes Spielzeug vor ihm beschützen.
»Mein Papa hat Kira gerettet, Mister!«, ging Aaron dazwischen. Sein schwarzer Ohrring zitterte dabei. »Sie wäre sonst von der Klippe gefallen!«
Etwas in Eugene schien zu zerbrechen. Kira stellte sich vor, dass es sich dabei um ein Glas weißer Farbe handelte, denn im nächsten Moment war seine wutverzerrte Miene erbleicht.
»Ist das wahr?«, fluchte er. »Kira! Du sollst nicht am Rand der Insel spielen, wie oft soll ich dir das noch verbieten?!« Seine Worte nahmen an Fahrt auf, jetzt sah er Aaron zum ersten Mal in