Zwei Ozeane auf Abwegen. Jenny Karpe
n id="ub06ff89b-6a07-519c-a8f6-6b0940b43908">
Jenny Karpe
Zwei Ozeane auf Abwegen
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Lass uns in Verbindung bleiben
Kapitel 01
Die Insel am anderen Ende des Ozeans verharrte wie ein ewiges Monument. Verwirrt musterte Kira die Gesteinsformation, die sie an einen Pilz erinnerte. Auf seinem Schirm ragten Häuser in den blauen Himmel. Das Meer rauschte unter ihr und einige Möwen kreischten, obwohl Kira keine sah. Die Sommerluft konnte nicht verhindern, dass sich eine Gänsehaut über ihren Körper legte. Eigentlich befand sich diese Insel doch längst auf dem Grund des Meeres. Sie war zerbrochen und versunken, als Kira ein kleines Mädchen gewesen war.
Langsam sah sie auf ihre Hände hinab. Winzig waren sie, speckig. Unter den Fingernägeln sammelte sich Sand. Ihre Füße steckten in staubigen, zerkratzten Lackschuhen. Einer ihrer Strümpfe hatte seinen Halt verloren und war wie eine alte Schlangenhaut hinabgerutscht.
Kira wurde heiß und kalt, ihre Kehle verengte sich. Warum war sie wieder acht Jahre alt?
»Da bist du!«
Sie fuhr herum und schnappte nach Luft, als ein dunkelhaariger Junge um ihren Hals fiel.
»Aaron!«, krächzte sie. »Was passiert hier? Warum sind wir wieder Kinder?«
»Du bist ein Kind«, lachte Aaron und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich bin schon zehn!«
Ihre Antwort war ein gequältes Lächeln. »Das ist nicht hilfreich.«
»Ich mache nur Spaß. Was ist los mit dir? Es ist doch alles normal. Oder immerhin ungefährlich.«
»Aaron«, knurrte sie kopfschüttelnd. »Wir waren bis eben erwachsen. Warum sind wir wieder hier?«
»Ich war hier noch nie«, gestand Aaron und machte eine Handbewegung, die beinahe einladend wirkte. »Erkennst du es nicht? Das ist nicht der Ausblick, den wir früher hatten. Die Insel am Horizont ist eine andere.«
»Ja, und sie ist ziemlich stabil«, stimmte Kira nickend zu. Ein geflochtener Zopf rutschte über ihre Schulter, was sie in ihrem unguten Gefühl bestärkte. Sie hatte es seit Jahren nicht gespürt, trotzdem war es so beklemmend wie in ihrer Kindheit.
»Irgendwoher kenne ich diesen Anblick«, murmelte sie. »Ich … weiß nur nicht, woher.«
Aaron nahm ihre Hand. »Dort drüben ist unsere Heimat. Ich bin mir sicher, dass Papa uns zeigen wollte, was aus ihr geworden ist.«
»Augustin.«
»Ja, Augustin. Ist alles in Ordnung?« Seine zehn Jahre alte Stirn legte sich in Falten. »Wir sind gesprungen, erinnerst du dich nicht? Wir haben die Insel verlassen, weil er uns diesen Morsecode geschickt hat. Mit den Sternen.«
Schwallartig kehrte Kiras Erinnerung zurück. Aarons Vater Augustin hatte sie kontaktiert, das erste Mal seit drei Jahren. Ihr Dasein verbrachten Aaron und Kira in einer Computersimulation. Nachdem sie ihre Insel von zwei tyrannischen Forschern befreit hatten, war Augustin an dem Ort geblieben, der offenbar die Realität war. Alle anderen Seelen ahnten nicht, dass sie in einem Programm lebten. Kira hatte schlaflose Nächte damit verbracht, diese absurde Wahrheit zu begreifen. Außerhalb ihrer digitalen Welt hatten sie keine Körper und mussten mit klobigen, langsamen Robotern vorliebnehmen. Sie waren Teil eines Experiments, dessen Zweck Kira zwar verstanden hatte, aber nicht wahrhaben wollte: In der Realität gab es keine Zukunft mehr. Die Erde war wie ein einziger Sandsturm, in dessen Auge ein Institut namens Wyoming Wonders stand. Hunderte, vielleicht tausende Experimente sollten hier irgendeine Lösung für die Probleme der Menschheit finden. Das Experiment von Insel 317 nahm daran nicht mehr teil, und statt den zwei Forschern wachte nun eine einsame Seele über das Programm. Augustin hatte darauf bestanden, dass Kira und Aaron in ihre Heimat zurückkehrten. Sie durften ein möglichst normales Leben führen, wie auch immer das aussehen sollte.