Zwei Ozeane auf Abwegen. Jenny Karpe

Zwei Ozeane auf Abwegen - Jenny Karpe


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sollst du zusehen, was ich mit deinen Schützlingen anstelle.« Er musterte Augustin genüsslich.

      »Was haben Sie vor? Wer sind Sie überhaupt!?«

      »Na, keine Aufregung. Man nennt mich Mo.«

      »Und die Leute, die Sie nicht sympathisch finden, nennen Sie wie?«, fauchte Augustin.

      »In diesem Fall bin ich Mortimer. Oder schlicht der Administrator.«

      Augustin wusste nicht, ob das ein schlechter Scherz sein sollte, doch im nächsten Moment ging ein Ruck durch seine Gelenke. Unfreiwillig drehte er seinen Körper in die Richtung des Mannes.

      »Der Administrator von was?«, hakte er bissig nach.

      »Von Wyoming Wonders. Darauf hättest du selbst kommen können. Immerhin weißt du so einiges über dich und unsere Institution, richtig?«

      »Was … was wissen Sie?«

      »Alles.« Mortimer ließ sich auf einem knarrenden Hocker nieder, beugte sich vor und krempelte sorgfältig seinen dunkelblauen Hemdsärmel herunter, damit er wieder das leuchtende Feld verdeckte. »Ich weiß, dass du Kira vor vielen Jahren vor einem Sturz von eurer Insel gerettet hast, weil dein feiger Sohn es nicht konnte. Ich weiß von dem Teleskop, das du Solomon-79 schenken wolltest und stattdessen ihrer Tochter gabst. Ich weiß von der Rebellenbande der Kinder von Insel 317, ich weiß von Elliott Naurys und Hana Toras Machtspielchen. Ich weiß, dass du von der Insel gefallen bist und wie durch Zauberhand in diesem R1 aufgefangen wurdest.«

      Bei diesen Worten kam Mortimer so nahe an ihn heran, dass sein Atem jene transparente Kuppel beschlagen ließ, die Augustins Kopf darstellte.

      »Wie durch Zauberhand«, wiederholte Mortimer sanft. »Ich weiß, dass du die beiden Forscher dieses Experiments überwältigt hast, um ihre Anschlüsse zu nutzen. Und ich weiß, wie sehr es dir gefallen hat, wieder ein Mensch zu sein, selbst wenn du dir den Avatar von Elliott Naury ausleihen musstest.«

      Augustin fand keine Gelegenheit, ihn zu unterbrechen. Ihm wurde schwindelig. Es fühlte sich an, als würden seine Kabel schmelzen. Sein System fasste dies mit einer weiteren Warnmeldung zusammen.

      »Aber du musstest zurück in diesen Körper, hm? Darfst das Paradies nur von außen sehen.«

      »Passen Sie auf, was Sie sagen.«

      »Oho«, kam es zurück. »Glaubst du, dass du jetzt allwissend bist, nur weil du das Labor für einen kurzen Spaziergang verlassen hast? Sei kein Idiot. Du weißt gar nichts.« Mortimer lehnte sich zurück, schmunzelte und zog eine der Tastaturen heran. In einer für Augustin kaum nachvollziehbaren Geschwindigkeit tippte er Zeile um Zeile, navigierte durch das Kernsystem und tauschte einige Parameter aus. Die Sicht auf die Insel, die Augustin gerne im Auge behielt, fror für einen Moment ein. Dann wich die Sonne dem Mond.

      »Es … ist Nacht?«, fragte er.

      »Richtig. Nacht. Und noch dazu sind drei Jahre vergangen.« Augustin wollte ihm nicht die Genugtuung geben, nach dem Grund zu fragen. Sein Schweigen änderte aber auch nichts daran, dass Mortimer jede Sekunde seiner Überlegenheit genoss. »Wäre doch seltsam, wenn du direkt am ersten Abend das tust, worum ich dich gleich bitten werde«, fuhr er fort.

      Es gab noch einen anderen Grund, Augustin wusste es. Irgendetwas hatte Mortimer im Schnellverfahren zu einem dauerhaften, gewohnten Teil des Experiments gemacht.

      »Dann bitten Sie mich mal«, entgegnete er und hätte sich zu gerne von Mortimer weggedreht. Nicht einmal eine trotzige kalte Schulter ließ sein Körper zu.

      »Fein. Du wirst einen Morsecode in den Sternenhimmel schreiben. Bitte

      »Wie können Sie—«

      »Ich weiß alles, Phil.«

      »Wenn Sie alles wissen, warum tippen Sie sich den Code nicht selbst zusammen? Ist ja nicht allzu schwer.«

      »Ich, wieso ich?« Sein Lachen klang wie die zufallende Tür einer Kühlkammer. »Dafür bist du doch hier. Du bist ein Roboter und wirst meinen Befehlen folgen. Das hättest du wohl gern, dass ich dich abschalte und alles allein erledige.« Mit diesen Worten rollte er erneut seinen Ärmel hoch, und zwar mit solch einer sorgsamen Ruhe, dass Augustin beinahe etwas erwidert hätte. Mortimer strich über den Bildschirm, als würde er ein Haar wegwischen. In diesem Moment riss Augustin ohne sein Zutun die Arme nach oben. Sie landeten mit einem dumpfen Dröhnen auf der langen Tischplatte neben einer verstaubten Tastatur. Die Kabel, die wie neugierige Schlangen zwischen den Monitoren hervorlugten, klackerten. Ein Haftnotizzettel löste sich von einem Bildschirm und landete direkt vor Augustins nicht vorhandener Nase.

      Behalte sie im Auge, stand dort. Doktor Elliott Naury hatte diesen Zettel geschrieben, als Kira damit begonnen hatte, überall auf der Insel Kameras zu installieren.

      »Schreib«, befahl Mortimer ungeduldig. »Du brauchst nur ein Wort einzugeben, das können die beiden ja entschlüsseln, nicht?«

      »Ja«, bestätigte Augustin und stellte fest, dass er immerhin seine Arme bewegen konnte.

      »Fein. Das Wort lautet Springt

      Augustins Finger verharrten über der Tastatur. »Was?«

      »Sie sollen springen. Das können sie doch. Selbst dein Sohn mit seiner Höhenangst kann das.«

      »Er fürchtet sich nicht mehr davor«, murmelte Augustin.

      »Umso besser«, hauchte Mortimer grinsend und tippte auf seinen Unterarm. Ruckartig wurde Augustin von einem Stromstoß geschüttelt. Worte und Zahlen blinkten wie wild auf seinem Interface.

      »Schreib jetzt, Phil Williams, oder ich zwinge dich dazu. Du wirst dich nicht daran erinnern können, wer du zu sein glaubst, wenn ich mit dir fertig bin.«

      Augustin zögerte nicht mehr. Er tippte und hoffte, dass die beiden nicht zum Himmel sahen. Dass sie zweifelten.

      Als Kira und Aaron Hand in Hand durch die Gassen der nächtlichen Insel huschten, verfluchte er sich. Warum hatte er keinen Sicherheitscode mit ihnen abgemacht? Warum hatte er ihnen gesagt, dass sie nur im äußersten Notfall springen sollten, und er derjenige wäre, der sie benachrichtigen würde?

      Als sie am Rand des Abgrunds standen, schickte Augustin ein Stoßgebet in den Himmel. Nie zuvor hatte er sich gewünscht, dass sein Sohn ihm nicht vertraute.

      Dann sah er, wie die beiden in die Tiefe fielen.

      »Fühlt sich schrecklich an, oder?«, fragte Mortimer. »Die Menschen, die man liebt, gehen zu lassen.«

      »Was soll … was soll das bedeuten?«, fragte Augustin matt. »Sie werden doch wieder die Plätze von R2 und R3 einnehmen. Sie kommen jeden Moment durch die Tür herein.«

      »Ich sagte, dass du kein Idiot sein sollst«, meinte Mortimer scheinbar gelassen, doch seine Nasenflügel waren abschätzig geweitet. Jetzt erkannte Augustin eine neue Emotion in den bislang so gehässigen Augen. Er hatte diesen Blick zuletzt bei Elliott bemerkt, bevor er sich türkisfarbene Pantoffeln in sein Schlafzimmer programmiert hatte. Es war der Punkt, an dem Menschen gefährlich wurden.

      »Diese beiden werden nie wieder irgendein Experiment verlassen. Sie landen auf dem Server, wie all die anderen.« Mortimer hob seinen Arm und massierte geduldig sein rechtes Handgelenk. »Ich habe dafür gesorgt, dass sie auf einer bestimmten Insel landen. Hier draußen seid ihr drei so … unberechenbar

      »Warum zum Teufel lassen Sie mich dann an der Tastatur sitzen?«, blaffte Augustin und hob drohend die Finger. Im selben Moment verengte sich der Griff des Administrators um sein Gelenk, ein zweiter Stromschlag fuhr durch den Roboter. Eine ungewohnt grelle Warnung tauchte vor Augustins innerem Auge auf, er verlor erneut jegliche Kontrolle. Für einen Moment entglitt ihm das Bewusstsein, aber offenbar nur so lange, wie Mortimer das wollte.

      »Weißt du, ich fand dich immer so cool und undurchschaubar. Ich hätte nie gedacht, dass du die beiden zum Springen bringst. Warum hast du dich nicht gewehrt, hm?«

      Augustin


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