Zwei Ozeane auf Abwegen. Jenny Karpe
kamen ihr Menschen entgegen, die sie nicht wahrzunehmen schienen. Obwohl es mitten am Tag war, glommen einige elektrische Laternen. Die meisten von ihnen waren jedoch zerstört. Kira löste ihren Blick vom zersprungenen Glas und lief gegen etwas Hartes.
»Verzeihung«, murmelte sie reflexartig. In diesem Moment begriff sie, wogegen sie gestoßen war. Kira starrte in die blinkende Leuchtdiode eines Roboters. Panik schwappte wild rauschend von ihrer Magengrube bis in die Ohren. Das klobige Plastikskelett ähnelte einem Raumanzug. Auf der Brust stand in orangefarbenen Lettern »R4«. Statt eines humanoiden Kopfes besaßen sämtliche Roboter von Wyoming Wonders eine transparente Kuppel, unter der sich unzählige Kabel tummelten. Kira wusste aus eigener Erfahrung, dass diese Körper schwerfällig waren. Wenigstens würde sie im Falle eines Angriffes ausweichen können. Der R4 machte allerdings nicht den Eindruck, als würde er sich jeden Moment auf sie stürzen. Eher wirkte er, als solle Kira endlich Platz machen, damit er seinen Weg fortsetzen konnte.
»V-verzeihung«, wiederholte Kira errötend und trat zur Seite. Sofort setzte sich der R4 in Bewegung. Er war wesentlich langsamer als die Modelle, die Kira in der Realität gesehen hatte. Was hatte er hier zu suchen? Soweit sie wusste, durchquerten die R4 Wyoming Wonders, um alle Daten zu übertragen, die zu groß für das interne Netzwerk waren, Sicherheitskopien von Experimenten oder geheime Dokumente. Der R4 von Insel 317 – so viel wusste Kira von Augustin – hatte sich nie im dazugehörigen Labor aufgehalten. Zumindest hatte Augustin ihn nie gesehen. Verwirrt schaute Kira dem Roboter hinterher, während ihr Herz jagte. Ihr Kopf feuerte einen Gedanken nach dem anderen ab. Sie brauchte Aaron, um den Überblick zu behalten und die Dinge etwas klarer zu sehen. Er konnte das. Sie seufzte. Eigentlich wusste sie, was sie tun sollte, denn der beste Ausweg war, zu Juniper zurückzukehren und sie um Hilfe zu bitten. Allein der Gedanke verursachte ein weiteres Magengrummeln. Zunächst brauchte sie einen Beweis. Kira musste ihr verdeutlichen, dass sie nicht Carla war, zumindest nicht jene Carla, die Juniper liebte. Sie sah ansonsten keine Möglichkeit, Antworten auf ihre Fragen zu erhalten. Zu ihrer eigenen Überraschung hatte sie noch nicht die Orientierung verloren. Kira fand den Rückweg durch das Gewirr der Gassen problemlos und stand schneller als gedacht vor Junipers Haus. Obwohl hier mehr Leute unterwegs waren, drückte die Stille auf diesen Teil der Insel. Kira räusperte sich und klopfte an die Vordertür. Keine Antwort. Auch ihr zweites Klopfen blieb ungehört. Kira atmete langsam aus. Das war mal wieder typisch. Sobald sie sich traute, war es zu spät.
Sie wandte sich von der Tür ab und beobachtete die Leute. Alle gingen in dieselbe Richtung, und es wurden immer mehr. Vielleicht gab es ein Fest oder ein wichtiges Treffen? Dann würde Juniper auch dort sein. Außerdem könnte sie etwas über das Experiment von Insel 002 erfahren.
Kira schloss sich dem Strom an. Die Wege wurden zu einem aufgeregt plappernden Fluss, der sämtliche Bewohner mit sich zu reißen schien.
Die Menge sammelte sich schließlich auf einer Anhöhe. Die zerstörte Insel 001 war hier bedrohlich nahe. Erst jetzt wurde Kira die Unruhe bewusst, die in ihrem Inneren köchelte. Das allgemeine Raunen versiegte abrupt, sie löste unschlüssig den Blick von dem Gestein über ihr. In der Mitte des Platzes befand sich ein Podest aus alten Kisten, aufwändig mit Fischernetzen und Blüten geschmückt. Die Aufmerksamkeit aller richtete sich darauf. Dort stand ein Junge, der höchstens acht oder neun Sommer erlebt hatte. Er trug ausgewaschene Shorts und sah bekümmert aus, weinte aber nicht.
Kira starrte gebannt nach vorne. Was sollte das hier werden, eine Zeremonie? Es dauerte einige Sekunden, dann drängte sich wie durch Zauberhand ein seltsames, absolutes Schweigen in die Menge. Sogar das Meeresrauschen verstummte.
Kira musste sich strecken, um über die Schulter ihres Vordermannes hinweg eine Gestalt zu erkennen, die in einer schwarzen Stoffhose und einem dunkelblauen Hemd das Podest betrat. Seinem ergrauenden Haar nach zu urteilen war er etwa Mitte fünfzig. Ein wenig erinnerte er sie an den einzigen Arzt von Insel 317, den alle nur Doktor Mortimer genannt hatten. Ein kalter Schauer jagte über ihren Rücken, als sie das orangene Logo von Wyoming Wonders an seiner Brust registrierte.
»Guten Tag, Insel 002!«, begann der Mann. Seine Stimme war laut und kräftig, und doch brüllte er nicht. Katzenhaft ging er von einer Ecke des Podestes in die andere, schien jeden in der Runde anzusehen. »Es freut mich, dass ihr euch auch in dieser Woche hier versammelt habt. Unsere schöne Insel ist ein Hafen für alle gestrandeten Seelen. Ich habe all meine Geheimnisse mit euch geteilt und vertraue darauf, dass ihr diejenigen seid, die all die anderen Experimente von Wyoming Wonders voranbringen. Ihr seid gutmütig, hilfsbereit und klug. Ihr alle werdet eines Tages in ein anderes Experiment geschickt und könnt dort die Quelle des Friedens sein. Und aus diesem Grund wird auch in dieser Woche jemand entsandt. Der Abschied fällt schwer, ebenso wie die Auswahl desjenigen, der uns verlässt.«
Der Junge starrte zu Boden, als der Mann zu ihm trat und ihm eine Hand auf die Schulter legte.
»Obwohl dieser Junge nicht viel Zeit bei uns verbringen konnte, hat er doch einen beachtlichen Messwert seiner Hilfsbereitschaft erreicht. Ich werde euch über seine Taten auf dem Laufenden halten, da er von nun an in einem der gefährlichsten Experimente beheimatet sein wird.«
Ein Raunen ging durch die Menge, Köpfe drehten sich. Hinter Kira tuschelte eine ältere Dame mit einer anderen Frau. »Ist es Experiment 810? Die können die Unterstützung gebrauchen. Dass man ausgerechnet ein Kind dorthin schicken muss! Aber unser Administrator wird schon wissen, was er tut.«
In Kiras Eingeweiden fiel Schnee, der sofort verklumpte. Administrator? Dieser Mann war also … sie schnappte nach Luft, da sie sich an die Datenbank erinnerte, die sie als Roboter besessen hatte. Während sie damals lernte, mit ihrer neuen Hülle umzugehen, hatte sie durch ihr eingebautes Lexikon gescrollt und war an diesem Wort hängen geblieben. Sie kannte es. Irgendetwas daran kitzelte ihr Unbewusstes, obwohl das unmöglich war. Kiras Seele war Teil des Programms – sie besaß streng genommen kein Unbewusstes. Zudem war sie auf Insel 317 ohne Computer aufgewachsen. Aber dieses Wort …
»Wir alle wünschen dir eine gute Reise«, rief der Administrator und unterbrach damit Kiras Gedanken. »Mach uns stolz!«
Plötzlich hoben die Umstehenden die Fäuste, jubelten wie aus einer Kehle. »MACH UNS STOLZ!«
Der gigantische Pilz aus Stein verursachte ein schallendes Echo, das den Ruf über die Insel verteilte. Kira stolperte rücklings aus der Menge. Wo war sie hier bloß gelandet? Kopfschüttelnd betrachtete sie die Bürger, die ihre Hände wieder senkten und gebannt dabei zusahen, wie der Junge in die Mitte des Podestes gestellt wurde. Der Administrator krempelte seelenruhig seinen linken Ärmel hoch, als wollte er den Jungen mit reichlich Pathos ohrfeigen. Stattdessen bemerkte Kira ein hellblau schimmerndes Feld auf dem Arm des Mannes. Was war das? Der Administrator musterte den Jungen und begann damit, an seinem Arm herumzudrücken. Doch zur Überraschung aller meldete sich der Junge mit einer festen, wütenden Stimme zu Wort, die seines Alters nicht gerecht wurde.
»Wir werden uns wiedersehen!«, rief er, während er fieberhaft in alle Richtungen blickte. »Bitte vergiss mich nicht, Kira!«
Es dauerte zu lange, bis sie begriff, was geschah. Ihr Körper reagierte schneller als ihr Geist und stolperte aus der Menge auf den Jungen zu, der im selben Moment verschwand und nichts als einen grauen Schleier zurückließ, der die Luft in feine Quadrate teilte.
»Aaron«, brachte sie leise hervor. Eine junge Frau musterte sie argwöhnisch, kopfschüttelnd. Ein Fremder zerrte sie zurück auf die Beine, doch Kiras Knie versagten. Warum hatte sie das nicht bemerkt? Wie konnte sie so blind sein, Aaron nicht zu erkennen?
Kira sah zu der Stelle, an der er gestanden hatte. Von dort blickte der Administrator direkt in ihre Augen, sanft lächelnd. Wie ein Kater, der eine Maus anvisierte. Sie versuchte, so gleichgültig wie möglich zurückzuschauen, doch ihren trommelnden Herzschlag konnte er unmöglich überhören.
Er wusste, wer sie war.
Und jetzt ahnte sie auch, dass Augustin sie nicht in diese Lage gebracht hatte. Es war der Administrator gewesen. Er hatte Aaron in ein weit entferntes Experiment geschickt, direkt vor ihren Augen. Sie schaute ihn so finster an, dass sich knisternde Schwärze hinter ihrer Stirn manifestierte. Das war schlimmer