Zwei Ozeane auf Abwegen. Jenny Karpe
Hände in die Hüften stemmend. Wann war denn zum letzten Mal etwas Spannendes passiert? Doch als sie einen genaueren Blick auf die Bildschirme warf, erkannte sie, dass dort nicht Insel 002 zu sehen war. Stattdessen nahm tiefe Nacht die Monitore ein, nur unterbrochen von schummrigen Lichtern und Zahlenkolonnen, die der Administrator in einem beachtlichen Tempo bearbeitete oder löschte. Zeile für Zeile ratterte über das Bild, ein unaufhaltsamer Strom aus Informationen.
»Ich sehe nichts«, murmelte sie.
»Lies den Code, meine Güte. Für alles andere ist es ja offensichtlich zu dunkel.«
Juniper beugte sich vor, doch sie wurde nicht schlau aus dem, was in den Zeilen geschah. »Sieht chaotisch aus.«
»Nicht wahr? Ein richtiger Kampf, Frau gegen Frau! Herrlich.«
»Wenn Sie das meinen …«, meldete sich Augustin zu Wort. Juniper erschrak so sehr, dass es ihr peinlich war. Allerdings gehörte es sich nicht für einen Roboter, so einen drohenden Unterton in die Stimme zu legen – oder überhaupt unaufgefordert zu sprechen. Juniper fragte nicht weiter, sondern stellte sich neben Mortimer und zog eine Tastatur heran.
»Ich brauche gerade die gesamte Rechenleistung, June«, unterbrach er sie.
»Was zum Teufel tust du da genau? Ich möchte mich um meine Arbeit kümmern, und das, was du da machst, hat offensichtlich nichts mit Insel 002 zu tun.«
»Die können sich untereinander helfen«, winkte Mortimer ab und grinste, während er in eine Schüssel mit Popcorn griff.
»Hast du … den Mais geplündert?«, flüsterte Juniper entgeistert, aber er reagierte nur mit einer gelupften Augenbraue. Na klar, er war der Administrator. Er hatte das Sagen. Außerhalb der Experimente gab es nur ihn. Alle anderen Forscher verbrachten ihre Zeit in den Laboren und auf den Inseln. Sie warf Augustin einen zweifelnden Blick zu und ließ die Hände sinken.
»Eine Seele ist aus unserem Programm verschwunden, ich muss mich darum kümmern«, murmelte sie.
»Welchen Namen hat die Seele?«, fragte Mortimer, ohne sonderlich interessiert zu klingen. Er schob sich galant drei weitere Popcorn in den Mund und tippte mit der anderen Hand.
»Das … weiß ich nicht.«
»Dann solltest du dich besser informieren, June. Es ist immerhin dein Experiment, klar?« Sein Tonfall wurde frostig.
»Diese Carla Frenton hat die gesuchte Seele überschrieben, und irgendwie wurde auch der Name in … in meinem Kopf überschrieben, obwohl das gar nicht geht. Kannst du mir das erklären, Mortimer?«
Im nächsten Moment stand er auf, schnippte ein Maiskorn auf den Boden und sah dabei tief in Junipers Augen.
»Ich dachte, du hättest mir zugehört«, knurrte er. »Es wäre besser, wenn du mir den Gefallen tust und dich selbst darum kümmerst. Ich habe hier wichtige Dinge zu erledigen, die dich nichts angehen.«
»Die Bezeichnung ihrer Seele steht aber auf dem Bildschirm. Was stellst du mit ihr an?«
Plötzlich drängte Mortimer sie gegen die Wand neben Augustin und schnürte ihr mit seinem Unterarm die Luft ab. Juniper schnaufte, ins Mark erschüttert. Sie kämpfte gegen den Druck, trat nach ihm, ohne Erfolg. Seine hochgekrempelten Ärmel offenbarten zwei hellblau leuchtende Flächen. Direkt vor ihr leuchtete jenes Tastenfeld, das er nutzte, um die Roboter zu steuern. Wofür der Rest gut war, wusste Juniper nicht, aber sie ahnte, dass Mortimer einige Geheimnisse unter seiner Haut verwahrte.
Abrupt ließ er los. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, Mortimer schüttelte den Kopf. »Verzeihung, das hätte nicht sein müssen. Ich bin etwas gestresst.«
Juniper hätte es eher explodiert genannt. Schwer atmend trat sie zur Seite, weiter von ihm fort. Ihre Gedanken jagten einander und wurden dabei immer schneller.
Mit einem frustrierten Laut legte Mortimer seine Hände in den Nacken, wandte sich von ihr ab und ging zurück zu den Monitoren. »Ich kann mich nicht um dich kümmern, aber wir bekommen das hin. Hab ein wenig Geduld, June.«
Ihr Puls hatte sich längst nicht beruhigt, im Gegenteil. »Sicher«, presste sie hervor.
Der Administrator warf einen kurzen Blick über seine Schulter, seine Mimik verriet nichts. »Danke.« Dann widmete er sich einem Bedienfeld auf seinem rechten Arm und kontrollierte mit eiligen Kopfbewegungen die großen Bildschirme. »Ich kümmere mich persönlich um Carla, verlass dich darauf.«
Kapitel 05
Das Meer war verschwunden. Ihr Leben lang hatte Kira das Rauschen in ihren Ohren getragen, nun war es totenstill. Sekundenlang schwebte sie im endlosen Weiß. Dann entstanden darin undeutliche Streifen, die sich zu Polygonen formten. Aus dem Boden erhoben sich dünne Grashalme, die an Farbe gewannen und Schatten erhielten. Steine erschienen dazwischen, als würde eine unsichtbare Hand sie woanders aufsammeln und sorgfältig platzieren. Bäume sprossen aus der Erde, ihre Wurzeln hoben den Boden an. Dann öffnete sich der Himmel, tiefblau. Der Mond strahlte so hell, dass es unangenehm war.
Kiras Beine waren butterweich. Sie stolperte ins Gras und atmete hektisch. Ihre Lungenflügel fühlten sich an, als hätte sie jemand herausgenommen und halbherzig wieder eingesetzt. Die Venen brannten zustimmend. Als Kira an sich herabsah, stellte sie fest, dass es ihr eigener Körper war. Nicht jener von Carla oder der Person, die Carla zu sein schien. Außerdem trug sie wieder das grüne Sommerkleid, das sie beim Sprung von Insel 317 getragen hatte. Sie fröstelte und ließ ihren Kopf fallen, sank in die Wiese wie in ein weiches Bett, in dem sie sich verstecken konnte.
Was gäbe sie dafür, allein zu sein, für den Rest ihres Lebens. In Frieden. Keine Aufregung mehr, keine durchgeknallten Administratoren oder Roboter. Ein Stich zuckte durch ihr rasant schlagendes Herz. Kein Aaron.
Wo er auch steckte, er existierte. Er wollte garantiert nicht allein leben, in dieser Hinsicht unterschied er sich von Kira. Er hatte Marv, Raik und Malik, seine Freunde. Selbst Celia und Finja würde er auf eine gewisse Weise vermissen. Aber Kira? Wer würde an sie denken, wenn sie verschwand?
Sie kniff die Augen zusammen und musterte den Mond über ihr. War er schon immer so groß und leuchtend? In einer Mischung aus lähmender Angst und unheimlicher Faszination beschloss sie, nicht wie ein kopfloses Huhn aufzuspringen und herumzurennen. Erst einmal wollte sie ein wenig nachdenken. Vielleicht half das, ausnahmsweise.
Leider hatte der Himmel andere Pläne. Gerade, als sich ihr Atem normalisiert hatte, schwebten schwere Wolken vor die einzige Lichtquelle. Aus tiefblau wurde schwarz.
Kira fuhr hoch und lauschte. Ihre Haut prickelte, weil sich die feinen Härchen zu einer Armee aufstellten. Natürlich war da nichts, kein Ungeheuer, keine Bedrohung. Es waren nur Wolken. Zumindest nahm sie nichts anderes wahr.
Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte sie sich nach oben, dehnte kurz ihre Schulter und vernahm ein wohltuendes Knacken. Im Stand erkannte Kira, dass sie nicht allein gewesen war. Zwischen den Bäumen zu ihrer Linken lauerte ein verschlafenes Dorf mit schiefen Laternen, glimmenden Fenstern und rauchenden Schornsteinen. Der Rest lag in dicht gewobener Schwärze. Das Gras unter Kiras Füßen war zwar zu hören, wenn sie darauf lief, aber mehr gab ihre Umgebung nicht her. Hatte der Administrator das Licht ausgeschaltet? Eine Sekunde lang spielte sie mit dem Gedanken, nicht auf ihn hereinzufallen. Aber er würde sie selbst in einem Schwarzen Loch finden, nur anhand einer Codezeile.
Vorsichtig trat sie den Weg in die Siedlung an, die Fäuste geballt, aber nicht erhoben. Künstliche Wasserläufe zogen sich durch das Straßenpflaster, das matte Licht der Häuser ließ die Rinnsale schimmern. Die Menschen auf dem Dorfplatz hatten dunkle Gesichter, in denen kaum ein Funken Leben zu finden war. Niemand zeigte Interesse an ihr, noch weniger als die Seelen von Insel 002. Vielleicht ging die Sonne in diesem Experiment niemals auf. Vielleicht waren dies Verstorbene, die aus anderen Experimenten hergebracht worden waren, um neu programmiert zu werden. Dieser Ort war dann so etwas wie das Gegenteil von Insel 002. Kira wusste nicht, wie schnell das Programm die Seelen