Zwei Ozeane auf Abwegen. Jenny Karpe
Unser Eingreifen war das Beste für sie. Wirklich. Sie … haben sich freiwillig an den Hauptrechner angeschlossen.«
»Unfassbar«, entfuhr es Juniper. »Das meintest du also damit, du hättest ganz andere Probleme gelöst.«
Der Aufzug blieb stehen.
»Genau«, murmelte Augustin. Auf einmal fühlte er sich maßlos überfordert, aber immerhin war er nicht mehr in der Nähe des Administrators. Der Roboter seufzte, was wie ein fiependes Ventil klang. Hoffentlich hielten Aaron und Kira aus, was Mortimer mit ihnen vorhatte.
Kapitel 07
Blubbernd sickerten Kiras Gedanken durch ihren Kopf, so langsam, als würden sie vor jeder Gehirnwindung anhalten, durchatmen und weiterfließen. Ihre Erinnerung kam nur zähflüssig zurück. Es verging eine Weile, in der sie damit beschäftigt war, die Dunkelheit in all ihren Facetten wahrzunehmen. Sie war nicht blank und rein, stattdessen rauschte sie wie die Pixel eines Monitors. Nur war Kira nicht vor, sondern auf gewisse Weise im Monitor. Als Francas Gesicht vor ihrem inneren Auge auftauchte, schrak sie hoch und stieß sich den Kopf an der Schwärze. Stöhnend rieb sie ihre Stirn und versuchte, etwas zu erkennen. Dann begriff sie.
Gänsehaut legte sich wie ein Schimmelpilz über ihren Körper. Hektisch atmend ertastete sie die Umrisse ihres Gefängnisses. Die Wände waren kühl, wahrscheinlich aus lackiertem Metall. Sie konnte die winzigen Luftblasen ertasten. Als Kira einen Spalt fand, der eisige Luft hereinließ, fiel ein Brocken aus Furcht von ihrer Brust. Wenigstens hatte Franca sie nicht lebendig begraben. Das hätte Kira ihr ohne Zögern zugetraut. Einen Ausweg gab es trotzdem nicht, so sehr sie auch nach oben oder zu den Seiten drückte. Sie atmete in ihre Handflächen, bis ihr Atem sich beruhigt hatte. Ihre Lippen kribbelten, das Herz lag quer in Kiras Kehle. Dann setzte eine unendlich lange Phase des Wartens ein. Sie beobachtete die Schwärze, kaute auf ihren Nägeln und der Unterlippe, versuchte vergeblich, ihr Magengrummeln zu unterdrücken. Stand Franca neben dem Sarg und wartete darauf, dass sie um Hilfe flehte? Den Gefallen wollte sie ihr nicht tun. Doch je mehr Zeit verging, desto stärker wurde ihre Sorge. Allmählich fand sie den Gedanken verstörender, dass niemand dort stand, dass niemals jemand kam, um sie zu befreien. Wie lange es dauern würde, bis sie starb? Und ob Kira dann einfach auf einem Server landete? Klebrige Grübeleien über das Sterben nisteten sich in ihr ein und zogen lange Fäden, die sich nicht fortdenken ließen. Was sollte nur aus ihrem Leben werden? Sie würde Aaron quer durch die Experimente folgen, aber gleichzeitig wusste sie, dass der Administrator bestimmte, wann sie sich wiedersahen. Falls überhaupt.
Kira erkannte, dass sie sich dringend ablenken musste. In der Enge war es allerdings nicht leicht, eine Beschäftigung zu finden. Dabei hatte sie es früher nie gestört, Zeit mit sich allein zu verbringen. Die unendlichen Nachmittage auf den Dächern von Insel 317 würden ihr für immer im Gedächtnis bleiben.
Sie schlich sich damals in einsturzgefährdete Gebäude, baute Treppen aus Schrott und kletterte so weit nach oben, wie es ging. Dort war sie allein, niemand würde sie stören. Dabei stimmte das gar nicht, einige Male hatte sie Geräusche in den unteren Etagen vernommen. Viele Bewohner der Insel waren ständig auf der Suche nach brauchbarem Baumaterial.
Kira konnte sich gut an einen Nachmittag erinnern, an dem sie eine Holzleiter zu einem verfallenen Dachboden genommen hatte. Eine Weile hatte sie mit dem Spielzeug aus einer muffigen Truhe gespielt, als sie Schritte im Haus und anschließend auf der Leiter hörte. Hastig versteckte sie sich in der Kiste und hoffte, dass sie nicht entdeckt wurde. Erwachsene motzten nur, darauf hatte sie keine Lust. Der Mann, der dieses Haus durchwühlte, schnappte sich einen zusammengerollten Teppich und ließ ihn unsanft vom Dachboden fallen. Dann stieg er die Leiter hinunter und nahm sie mit, was Kira feststellte, nachdem sie sich aus der Truhe getraut hatte. Ratlos sah sie durch die rechteckige Öffnung des Dachbodens und erkannte, dass sie besser nicht springen sollte. Sie war gerade zehn geworden und hatte sich geschworen, ein ganzes Jahr lang nicht aufzufallen. Wenn sie sich jetzt etwas brach, saß sie in der Patsche.
Also durchsuchte sie den Dachboden nach Seilen oder einer Ersatzleiter. Stattdessen fand sie nur leere Kisten, Truhen und Kartons, in denen langsam zerfallende Bücher auf ihren Tod hinarbeiteten. Sie kletterte auf eine dieser Kisten und stieß ein Fenster mit zersprungener Scheibe auf, um ihr Teleskop hindurchzustecken und die umliegenden Gebäude nach einer Fluchtmöglichkeit abzusuchen. Dieses Mal war ihr geliebtes Teleskop aber nicht sonderlich hilfreich, da es vor allem stark vergrößerte Wände oder einen strahlend blauen Himmel zeigte. Verärgert verstaute sie das Werkzeug wieder in ihrem Beutel. Dann beugte sie sich aus dem Fenster und sah hinab. Direkt unter ihr lag die Grenze, eine weiße Mauer, die wie eine Narbe von den Kämpfen der Stadt erzählte. Kira hatte gar nicht mitbekommen, dass sie sich so nah an der ruanischen Seite befand. Dann sah sie Aaron.
Wie der Blitz zuckte ihr Kopf nach hinten, als würde er jeden Moment hochschauen. Kira kaute an ihren Fingernägeln, während ihr Herz schneller pochte. Sie hatte Aaron manchmal gesehen, in letzter Zeit wurde das aber seltener. Vorsichtig linste sie über das Fensterbrett und presste die Lippen aufeinander. Aaron hatte seinen besten Freund dabei, Marv. Sie schienen Ball zu spielen, denn immer wieder hörte sie ein dumpfes Geräusch, wenn er gegen die Mauer gekickt wurde. Marv war wesentlich besser als Aaron. Ständig nahm er ihm den Ball ab, dribbelte um Aarons Beine oder ließ ihn auf seinem Knie hüpfen. Trotzdem schien es beiden Spaß zu machen, sie lachten. Plötzlich rief Marv etwas, aber da war es schon zu spät. Der Ball flog im hohen Bogen über die Grenzmauer.
»Ich sagte doch, dass du ihn halten sollst!«, rief Marv aufstöhnend.
»Wie denn, etwa mit der Hand?«, entgegnete Aaron.
»Na klar, wie sonst?«
»Aber hast du mir nicht eben erklärt, dass man nicht mit der Hand spielen soll?« Aaron hatte damals hin und wieder Regeln befolgt. Sein bester Freund schlug sich mit einem übertrieben lauten Stöhnen an die Stirn, woraufhin Kira schmunzelnd den Kopf schüttelte.
»Das war eine Ausnahme, du Granate. Wie kommen wir jetzt an den Ball heran?«
»Gibt eine leichte Lösung«, hörte sie Aaron sagen. Erneut duckte Kira sich, da er den Finger hob und hochsah. »Wir müssen nur über die Grenze klettern.«
»Ja, klaaar!«, rief Marv aus. »Dass ich da nicht eher drauf gekommen bin! Du bist so ein Genie. Über die Grenze zu klettern ist meine leichteste Übung.«
»Wir müssen uns doch nur einen Turm aus dem Müll hier bauen und rüber. Sieht keiner. In dieser Gegend ist niemand.«
»Dann pack an, ich will den Ball wiederhaben, bevor die Basílissa bemerkt, dass du ausgebüxt bist.«
»Ich bin nicht ausgebüxt«, meckerte Aaron, während seine Stimme leiser wurde. Kira wagte einen erneuten Blick und sah, wie der Zwölfjährige in einer schmalen Gasse verschwand, in der sich Schutt und Abfälle häuften. Er hatte keine Scheu, das musste sie ihm lassen.
Eine Weile lang sah sie dabei zu, wie die Jungen Kisten stapelten. Da kam ihr eine Idee. Warum machte sie es ihnen nicht nach? Schon sammelte Kira große Kartons, die sie sorgfältig zielend durch das Rechteck im Boden des Dachbodens warf. Sie wartete dabei immer auf den Moment, in dem Aaron oder Marv eine weitere Kiste abstellte. Einmal krachte der Turm draußen zusammen, weil Marv so übermütig war, ihn auszuprobieren. Schließlich stand in der Ruine ein wackeliger, schiefer Stapel, der darauf wartete, als Leiter zu dienen. Kira wünschte sich und ihren Knochen Glück und ließ sich rückwärts auf die erste Stufe hinab, während sie sich an der Kante der Luke festhielt.
»Okay«, flüsterte sie. »Kira, du schaffst das. Du kommst hier allein weg.«
Als sie sich endlich traute, ihre Finger von der Kante zu lösen, kippte der Turm wie in Zeitlupe nach vorne. Kira wusste nicht, wie ihr geschah, und gab erst einen Ton von sich, als sie zusammen mit den Kartons auf den Boden purzelte. Trotz Schmerzen sah sie sich um. Kein fremder Mann, der einen Teppich und eine Leiter trug, immerhin. Von draußen war wenig zu hören. Kira huschte zu einem Fenster, das nicht zerschlagen war, sondern vollständig fehlte. Sie beugte sich darin