Einer meiner Söhne. Anna Katharine Green
Ja.
Um welche Zeit?
Nach dem Essen; aber vor halb acht, antwortete sie. –
Bisher hatte das Mädchen noch nichts davon gesagt, daß es nach der Mahlzeit mit dem alten Herrn zusammengewesen war. –
Sie waren also bis halb acht Uhr bei ihm? fuhr der Detektiv fort.
Ja – ungefähr bis halb acht.
Und als Sie fortgingen war er in seinem gewöhnlichen Gesundheitszustand?
Allem Anschein nach – ja!
War dies vor der Zeit, da Ihr Vetter Leighton in das Zimmer kam?
Vorher.
Warum gingen Sie weg? War Herr Gillespie mit seiner Arbeit für den Abend fertig?
Das weiß ich nicht – ich glaube, nein. Aber ich war ermüdet, und er bat mich, auf mein Zimmer zu gehen.
In seiner gewöhnlichen Art und Weise?
Ja.
Es machte nicht den Eindruck, als ob er Sie gern aus dem Zimmer entfernen wollte?
Nein.
Und wann kam das Kind zu ihm?
Später.
Nicht gleich nachher?
Nein; etwa eine Viertelstunde später.
Hm! Dann war also eine Viertelstunde vor seinem Tode die Kleine bei ihm?
Wahrscheinlich; aber ich weiß es nicht.
Der Detektiv sann einen Augenblick nach; dann schloß sich seine Hand mit festem Griff über den Briefbogen zusammen, und in besonders ernstem Tone fuhr er fort:
Fräulein – es ist sehr wichtig für uns, zu wissen, ob Herr Gillespie Todesgedanken hatte. Sie kennen diese Korrespondenz: es ist ein Brief an die Anwaltsfirma Simpson & Beals in Dubuque, Iowa, ein anderer an Howard Mac Cartney, St. Augustine, Florida. Dieser hier ist an den Präsidenten der Santa Fé-Eisenbahn und dieser an Clarke, Beales & Co., Nassau Street in der City. Es sind wohl lauter Geschäftsbriefe?
Ganz recht.
Und es ist, wie ich annehme, kein einziger darunter, wie man ihn von einem Mann erwarten sollte, der in der Zeit von einer Stunde seine Rechnung mit dem Leben für immer abzuschließen gedachte?
Kein einziger, lautete die Antwort. –
Wie lakonisch sie war für ein Mädchen, das kaum die Zwanzig erreicht haben konnte! –
Aus diesen Ihnen bekannten Briefen ergibt sich also kein Anzeichen, daß Herr Gillespie an Selbstmord dachte? fuhr der Detektiv fort.
Im Gegenteil. In einem von den Briefen – wenn ich nicht irre, ist es der an Clarke, Beales & Co. – traf er eine Verabredung für morgen. Mein Onkel war in Geschäftsangelegenheiten sehr pünktlich. Niemals würde er eine Zusammenkunft verabredet haben, wenn er nicht angenommen hätte, hingehen zu können.
Steht ihr zwei miteinander im Bunde? unterbrach George sie mit zorniger Stimme. Willst du etwa darauf hinaus, daß unser Vater durch Gewalt umgekommen sei?
Im Bunde? fragte sie. –
Sprach sie diese Worte wirklich, oder lag die Frage nur in ihrem Blick? Mir wurde das Herz schwer, als ich den leidenden, um Verzeihung flehenden Ausdruck in ihren Augen sah. Gryce, wie der Detektiv sich genannt hatte, sah ihn vielleicht auch, aber er tat, als prüfte er den Papierstreifen, den er jetzt aus seiner Tasche zog. Wie wir alle sofort bemerkten, war es der Fetzen, den Fräulein Meredith vorhin auf den Fußboden geworfen hatte.
Sehen Sie mal her! sagte er. Es sieht aus wie ein ganz leeres Stück Papier.
Das ist es auch, erklärte sie. Warum er es mir schicken wollte, das weiß ich nicht. Es wurde mir in verschlossenem Umschlag von jenem Herrn gegeben, der dort bei der Tür steht; er sagt, er habe es von meinem Oheim vor dessen Tode erhalten. Das ist ja allen hier Anwesenden bekannt.
Ganz recht. Nun möchte ich Sie fragen, von welchem Briefbogen wohl Ihr Onkel dieses Stück abgerissen hat? Sie kennen doch das Papier? Sie haben es bereits gesehen?
O ja. Es ist von einem der Briefbogen, die für Maschinenschrift benutzt werden. Das nehme ich wenigstens an. Es sieht ganz genau so aus.
Sweetwater, bringen Sie die Schreibmaschine her! befahl Gryce.
Sweetwater war der junge Mann, der einige Zeit vorher dem Coroner die leere Weinflasche gebracht hatte.
O, was soll denn das bedeuten?! rief Hope zusammenfahrend.
Ein Fluch antwortete ihr. George war der Geduldsfaden endlich gerissen.
Der alte Detektiv blieb aber völlig ungerührt.
Wenige Augenblicke darauf erschien Sweetwater mit der Schreibmaschine auf dem Arm. Er setzte sie auf den im Bibliothekzimmer stehenden großen Tisch nieder, um welchen sich sofort alle Anwesenden herandrängten – außer Sweetwater und mir.
Natürlich konnte ich von meinem Standpunkt nicht in das Bibliothekzimmer hineinsehen. Aber da ich ein sehr gutes Gehör besitze, so konnte ich jedes Wort vernehmen, das dort gesprochen wurde, obgleich ich die Redenden nicht sah.
Als Sweetwater die Schreibmaschine bei mir vorübertrug, hatte ich bemerkt, daß ein Papierstreifen unter dem »Schlitten« hervorragte. Auf diesen Streifen lenkte Gryce zuerst Fräulein Merediths Aufmerksamkeit, indem er sagte:
In der Maschine befindet sich, wie Sie sehen, ein unvollendeter Brief. Haben Sie daran geschrieben?
Sie antwortete nicht sofort. Dann aber stieß sie ein merkwürdig scharf betontes »Nein« hervor.
Ah! Dann befindet sich also sonst noch jemand hier im Hause, der diese Schreibmaschine benutzt?
Herr Gillespie. Er benutzte sie oft, wenn etwas schnell geschrieben werden mußte und ich nicht gleich bei der Hand war.
Herr Gillespie? Glauben Sie, daß er selber diese Zeilen geschrieben hat?
Gewiß. Es war ja sonst niemand da, der sie hätte schreiben können. –
Arbeitete meine Einbildungskraft zu rasch, oder hatte ihre Stimme wirklich einen verschleierten Klang, der darauf schließen ließ, daß sie eine innere Erregung zu verbergen trachtete? –
Nun, erwiderte mit sanfter Stimme der Detektiv, so bedürfen wir keines weiteren Beweises dafür, daß Herr Gillespie bis zu dem Augenblick, wo er seine letzten Zeilen schrieb, bei vollkommen klarem Bewußtsein und in ruhiger Gemütsverfassung sich befand. Ich bezweifle, ob Sie selber, Fräulein Meredith, jemals eine bessere Arbeit auf der Schreibmaschine hergestellt haben. Aber warum ist der Bogen mitten durchgerissen? Die Hälfte des Blattes fehlt und damit zum mindesten auch ein Teil des Briefes.
Sie stieß einen kurzen Ruf der Ueberraschung aus, und auch von den anderen, die in der Bibliothek anwesend waren, konnte ich Bewegungen und unterdrückte Laute vernehmen, die auf großes Erstaunen schließen ließen.
Soll ich das Blatt herausnehmen? fuhr der Beamte fort. Oder will einer von Ihnen den Inhalt vorlesen, ohne daß der Brief aus der Maschine entfernt wird? Ich möchte das vorziehen.
Ich hörte George und Alfred einige abgerissene Worte murmeln, dann erklärte Leighton mit ruhiger Stimme:
Der Brief betrifft ein Geldgeschäft, das mein Vater in Denver zu machen beabsichtigte. Wenn Sie es für nötig halten, will ich Ihnen gern die darauf bezüglichen Worte vorlesen, die mein Vater eine halbe Stunde vor seinem Tode schrieb:
New York, N. Y., den 17. Oktober 1899.
Herrn James C. Taylor, Wohlgeboren,
18 State Street, Boston, Mass.
Sehr geehrter Herr!
Mit Bezug auf die Finanzierung der 10,000,000 Dollars, die wir bei unserer Zusammenkunft am 12. ds. besprachen, ist